Kapitel eins:
Es war ein kühler Frühlingstag am Anfang der Woche. Der siebzehnjährige Manuel Baumann hatte nicht wirklich Lust auf die Schule, aber er wusste, dass er nicht einfach fehlen durfte. Ein Gedanke, der für die meisten Jugendlichen heutzutage völlig undenkbar wäre, aber Manuel war da anders.
Anders in vielerlei Hinsicht.
Die Schule war ihm seit dem Umzug von vor drei Jahren in diese Stadt zuwider geworden. Eigentlich hatte er sich auf die neue Schule gefreut. Auf Freunde und eine schöne Umgebung. Etwas Neues eben. Er war sehr offen gewesen, was die Zukunft anging, aber nichts von dem, was er sich vorgestellt hatte, war wahr geworden.
Damals, in seiner alten Schule, hatte er viele Freunde gehabt, was aber eher daran lag, dass er die meisten seit dem Kindergarten kannte und sie somit auch ihn. Selbst wenn der Unterricht manchmal sehr hart war, so hatte er seinen Spaß gehabt und sie alle waren durch dick und dünn gegangen.
Es wäre undenkbar, dass sie mal irgendetwas trennte, aber der Umzug hatte es geschafft. Natürlich gab es noch das Telefon, die Post und den Zug, aber das alles war kein Vergleich dazu, wenn man sich täglich ohne irgendwelches Hin und Her treffen konnte. Einfach, wenn man mal gerade Lust hatte.
Jetzt war alles anders. Er hatte von Anfang an keine neuen Bekanntschaften gefunden oder sich in eine bestehende Gruppe integrieren können und wurde somit zum Außenseiter. Oft wurde hinter seinem Rücken über ihn getuschelt und gelacht. Eigentlich mochte man meinen, dass Schüler, die bereits siebzehn Jahre alt waren und somit ihren Abschluss anstrebten, etwas erwachsener waren, aber dem war nicht so. Sie verhielten sich wie kleine Kinder, die absolut keine Manieren und kein Gewissen besaßen. Die in ihr Leben hineinlebten und sich keine Gedanken um ihre Zukunft machten.
Und die anderen, die aus der Rolle fielen, aber ihre eigene kleine Gruppe an Freunden besaßen? Für die war das alles nur ein Heidenspaß, schauten zu oder hielten sich ganz heraus, um nicht selber zum Opfer degradiert zu werden.
Nur, was war daran lustig?
Manuel überlegte und überlegte, kam aber zu keiner plausiblen Antwort. Wieso machte es manchen Menschen, in diesem Fall Jugendlichen, nur so großen Spaß, andere Leute zu ärgern und fertigzumachen.
Ihnen das Gefühl zu geben, dass sie keine Berechtigung hätten, in dieser Welt zu leben.
Ihnen das Gefühl zu geben, dass sie alles falsch machten, egal wie sehr sie sich anstrengten und ihr Bestes gaben.
Manuels Blick wanderte unschlüssig über das graue Schulgebäude. Überall sah er große, ungeputzte Fenster, mit Graffiti beschmierte Wände und Abfall, der unweit der Mülleimer verstreut herumlag. Die paar Meter waren wohl zu viel für manche Schüler, sodass die Verpackungen oder die Taschentücher auf dem Boden landeten.
Unwohl sah Manuel von einem Schüler zum nächsten.
Ob er nicht einfach wieder umdrehen und verschwinden sollte? Das wäre gewiss die bessere Lösung, als sich einen weiteren Tag diesem Kampf zu stellen.
Für einen Moment wendete er den Blick tatsächlich von dem Ort seiner persönlichen Hölle ab, nur um zum angrenzenden Park zu sehen. Dort war alles grün und, so kitschig es sich anhören mochte, dort war auch alles friedlich. Voraussetzung war natürlich, dass keiner von den aufmüpfigen Jugendlichen aus seiner Schule dort herumstreunte.
Deutlich spürbar pochte Manuels Herz schneller, während er in seinem Magen ein unangenehmes Ziehen wahrnahm, als er den Blick wieder auf den Schulhof richtete.
Es waren die üblichen Zeichen der Nervosität, die sich jeden Tag, seit er in dieser Stadt lebte, bei ihm einstellten.
Er wusste aber auch, dass er es ertragen musste, da er nicht gehen konnte. Nicht, weil er nicht wollte. Er wollte es nur zu gerne. Einfach umdrehen und wieder verschwinden. Den Rückwärtsgang einlegen und etwas tun, was angenehmer für seine Nerven war, aber es ging einfach nicht.
Es war nichts Sichtbares, das ihn fesselte und jede Flucht als unmöglich gestaltete.
Schon früh hatte er gelernt, dass er in der Schule nicht fehlen durfte, wenn er niemanden enttäuschen und nicht den Unmut von irgendjemanden auf sich ziehen wollte.
Das Gefühl, den gedachten Anforderungen gerecht zu werden, hatte sich tief in seinem Innern verankert und ließ sich einfach nicht lockern oder beiseiteschieben. Immer war es da und hinderte seinen Körper daran, seinem Verlangen nach einer rettenden Flucht nachzugeben.
Auch heute würde es nicht anders sein.
Leise und unbehaglich seufzte Manuel auf, drückte kurz seinen Turnbeutel an sich und überschritt die letzte Grenze, die ihn vom Schulhof trennte.
So schnell und ohne dass es auffiel, überquerte er den Schulhof und betrat kurz darauf seinen Klassenraum. Nur wenige Schüler waren bereits anwesend und fingen kurzzeitig an zu tuscheln, als sie ihn sahen. Eines der Mädchen warf ihm sogar einen angeekelten Blick zu, was Manuel einmal auf seinen Umfang schob und einmal auf seine schlabbrige Kleidung, mit welcher er sein doch sehr starkes Übergewicht zu kaschieren versuchte. Da er mit seinen 1,68 Metern auch nicht unbedingt zu den Größeren zählte, trugen die vielen Kilos noch etwas mehr auf, als es bei einem Menschen mit etwas mehr Körpergröße der Fall war.
Schnell ließ sich Manuel mit gesenktem Kopf auf seinem Platz am Fenster nieder und wartete. Wartete auf die heutige Tortur. Was sie sich wohl diesmal für ihn ausgedacht hatten?
In den ersten beiden Doppelstunden hatte er Mathe und Englisch. Da geschah ihm garantiert nichts, weil der Lehrer, der die Fächer unterrichtete, selbst unter den schwierigen Schülern sehr bekannt und berüchtigt war. Dieser Mann griff bei allem hart durch und machte auch deutlich, was er von Fehlverhalten hielt. Nämlich gar nichts. Es konnte bei diesem Mann auch mal passieren, dass Schüler zum Direktor geschickt oder die Eltern eingeladen wurden. Leider hatte dieser Mann nur eine Halbtagsstelle und war nicht oft in der Schule vorzufinden.
Danach kam allerdings das Horrorfach schlechthin.
Sport.
Sein Magenziehen verstärkte sich sofort um ein Vielfaches.
Wie er dieses Fach doch hasste. Nicht etwa, weil er selber so unbeweglich war oder die Bewegungen zu anstrengend. Es lag einfach an seinen Mitschülern. Sie waren oftmals verdammt kindisch. Stellten ihm ein Bein, schossen ihm Bälle hart gegen seinen Körper. Vorzugsweise so, dass sie sein Gesicht trafen und es dabei so aussah, dass er zu dumm zum Fangen war. Bei mangelnder Leistung wurde auch gerne gelacht, was von der Sportlehrerin erfolglos zu unterbinden versucht wurde.
Nach und nach kamen immer mehr Schüler in die Klasse, wobei am Ende mindestens sechs Schüler fehlten. Nichts Neues.
Der Tag verlief, wie erwartet.
Die Schwänzer und Krankgeschriebenen, was oft auf das Gleiche hinauslief, wurden im Klassenbuch notiert und der Unterricht abgehalten. Die Pause vor dem Sportunterricht machte sich Manuel möglichst unsichtbar und er wurde zum Glück in Ruhe gelassen.
Dann begann allerdings das vorhergesehene Desaster.
Wie immer war Manuel der Erste in der Umkleidekabine und wechselte geschwind die Kleidung. Seine Tasche und seinen Sportbeutel samt der Tageskleidung versteckte er wie jedes Mal in einem Versteck auf den Spinden, wo sie von seinen Mitschülern bisher noch nicht gefunden wurden.
Es grenzte an öffentliche Selbstdemütigung, wenn er sie in den Spind legte, den die Schüler selber nicht verschließen konnten. So gut wie alle Schlösser waren irgendwie defekt. Die wenigen verschließbaren Fächer hatte sich jemand geschnappt, der schneller war und somit den kleinen silbernen Schlüssel für die Schulzeit besaß.
Wenige Male am Anfang hatte Manuel seine Sachen in einen der Spinde gelegt, dann aber nie wieder. Seine Mitschüler hatten die Gunst der Stunde genutzt, seine Kleidung gestohlen und er durfte sie den ganzen Tag suchen, nur um sie in einem der Mülleimer wiederzufinden. Da es zu der Zeit auch noch Winter und er durchgeschwitzt von der Sportstunde war, hatte er sich zudem eine dicke Grippe zugezogen, die es galt auszukurieren.
Wenn er nicht gerade krank gewesen wäre, hätte ihm die Zeit daheim sogar sehr gefallen. Er hatte zumindest seine Ruhe gehabt.
Als er fertig war, verließ er die Umkleide und betrat die bisher noch leere Turnhalle.
Es war wie immer und wie jedes Mal wärmte er sich mit kurzen Streckübungen auf. Einmal, als er unaufgewärmt am Unterricht teilnahm, hatte es ihm eine starke Zerrung eingebracht. Das wollte er nicht erneut riskieren, auch wenn er dafür einige hässliche Bemerkungen der Mitschüler riskierte, die nach und nach in die Halle kamen.
Als nach einer Weile die restlichen Fehlenden hereinkamen, hörte er augenblicklich mit den Übungen auf. Er wollte nicht, dass man ihn noch zusätzlich auslachte und fertigmachte.
Sicher.
Er hätte sich dagegen wehren können. Gewiss dachten das viele Menschen, wenn sie ihn und sein Verhalten sahen, aber es war gar nicht so einfach.
Als er noch neu auf dieser Schule war, versuchte er es tatsächlich. Mehr, als noch mehr Ärger hatte es ihm nicht eingebracht, sodass er es irgendwann aufgab.
Er glaubte nicht mehr daran, dass ihm noch irgendetwas oder irgendjemand helfen konnte. Wenn doch, dann wäre es schon längst geschehen, oder etwa nicht?
Heute war der Reck dran. Schon als Manuel das Gerät sah, brach ihm der Schweiß aus. Seine Hände wurden klatschnass, während sein Herz schneller schlug, drohte aus dem Brustkorb zu springen.
Die Lehrerin erklärte, dass sie heute die Klimmzüge üben würden, da diese in der nächsten Stunde benotet wurden. Es standen vier Recke nebeneinander zur Verfügung und wenn alle geübt hatten, würde es mit einem Ballspiel weitergehen.
Manuel wollte nicht, aber er war leider einer der Ersten, der aufgerufen wurde. Nervös trat er an einen der Recke heran und streckte die Arme nach oben. Natürlich kam er nicht sofort ran, was die anderen zum Lachen verleitete.
„Sind alle bereit. Dann los“, meinte die Sportlehrerin und zählte an. Manuel seufzte deswegen nur innerlich, stieg an der Sprossenwand, wo das Reck befestigt war, ein paar Sprossen hinauf und kam endlich an die Stange. Sobald er hing, spürte er sein Gewicht nur zu deutlich an seinen Armen ziehen.
Am liebsten hätte er sofort wieder losgelassen, aber er wollte sich Mühe geben, weswegen er die Arme anspannte und sich wacklig versuchte nach oben zu ziehen. Die Augen kniff er dabei fest zusammen. Schweißperlen rannen über seine Stirn, an den Schläfen herab.
„Gib dir etwas mehr Mühe, Manuel“, forderte ihn die Lehrerin auf, was ebenfalls zur Erheiterung beitrug.
Komm schon, wenigstens einen Klimmzug, schoss es Manuel durch den Kopf, aber im selben Moment rutschten seine feuchten Hände von der Stange ab. Mit einem dumpfen Laut landete Manuel auf dem Boden, während seine Ohren von dem lauten Lachen klingelten. Er spürte deutlich, wie seine Ohren vor Scham ganz heiß wurden.
Hastig stand er vom Boden auf und rieb seine Hände an seiner Turnhose trocken.
„Hast du etwa immer noch nicht geübt? Deine Noten in diesem Fach sehen nicht sehr berauschend aus und das weißt du. Geh zwei Runden laufen, vielleicht kannst du dabei ja deine Gedanken etwas sammeln“, tadelte ihn die Lehrerin. Mit gesenkten Kopf, ohne zu widersprechen, kam Manuel dem nach. Was sollte er auch sagen? Alles, was er hätte sagen können, würde ihm nur noch mehr Ärger einhandeln.
Ihm nicht helfen.
Gedemütigt lief Manuel los, fing aber nach der ersten Runde bereits an zu keuchen. Seitenstiche gesellten sich wie ein ekliger Parasit hinzu und trieben seinen Schabernack mit ihm. Stachen und zwackten ihn in die rechte Seite und dachten gar nicht daran, wieder zu verschwinden.
Sehnsüchtig sah Manuel zu den Bänken, wo er sich etwas ausruhen könnte, aber er riss sich am Riemen und lief weiter. Schon allein, weil dort einige der Mädchen saßen, die eine Entschuldigung für Sport vorliegen hatten und lauthals über Dinge quatschten, die ihre Krankmeldung Lügen straften. Jedes Mal, wenn die Lehrerin zu ihnen herübersah, taten sie wehleidig, was sie ganz und gar nicht waren. Manuel wollte sich so wenig wie möglich mit ihnen abgeben.
So brachte er auch die zweite Runde und die restliche Sporteinheit hinter sich.
Wie jedes Mal war er auch diesmal der Letzte, der die Umkleide betrat und sich nach einer kleinen Erfrischung am Wasserhahn ankleidete. Dem Spiegel über dem Waschbecken, der einen Jugendlichen mit schulterlangem rotem Haar und grünen Augen zeigte, schenkte er dabei keine Aufmerksamkeit. Wie gut, dass die Jungs immer so schnell das Weite suchten, um vielleicht noch die ein oder andere Stunde zu schwänzen, bevor der Aufsichtslehrer draußen in den Pausen seine Runden drehte und sie noch beim Fortschleichen erwischte.
Manuel konnte es nur recht sein.
Nach einer großen Pause und einer letzten Doppelstunde Geschichte hatte Manuel dann auch endlich Schluss. Jetzt nur noch hier weg und er konnte seinen restlichen Tag angenehmeren Dingen widmen. Lesen oder mit seinen Freunden aus seinem ehemaligen Heimatort chatten.
Leider schien er vorher allerdings noch eine andere Prüfung bestreiten zu müssen.
„Wonder Pig hat es wieder mal nicht geschafft“, ertönte hinter Manuel eine höhnisch lachende Stimme. Eindeutig. Nicht nur kleine Kinder konnten gemein sein. Manuel musste sich das so gut wie jeden Tag anhören und bekam die Konversationen zuträglich auch oft körperlich zu spüren.
Als wollten sie dem Geschwafel noch zusätzlich Ausdruck verleihen. Mit einem unguten Gefühl griff er nach einem Träger seiner Tasche, drehte sich aber nicht zu den näher kommenden Jungs um, sondern ging einfach zügig weiter.
Schon vor Jahren hatte Manuel gelernt, die Sticheleien weitestgehend zu ignorieren. Häufig war es die beste Möglichkeit, um sich schneller aus der Affäre zu ziehen, da es den Typen schnell zu langweilig wurde, wenn das Opfer nicht reagierte.
Dies war aber nicht immer der Fall, denn genauso oft sahen sie es auch als Aufforderung weiterzumachen und ihm eine Reaktion herauszukitzeln.
Gleich wie sie ausfiel, alles Weitere lief auf das Gleiche hinaus.
„Hey, Wonder Pig. Bist du dir zu fein für uns?“, rief die Stimme ihm nach. Im nächsten Augenblick wurde er eingeholt und von einer Schar Jugendlicher eingekreist.
Dabei hatte er es fast geschafft, das Schulgeländer zu verlassen. Oft war er dann aber auch nicht in Sicherheit, da ein ganz Bestimmter aus der Truppe ihn gerne auch mal verfolgte, um seinem Hobby zu frönen.
Noch immer schwieg Manuel, drückte seine Tasche fest an sich und sah von einem zum anderen. Ihm blieb ja praktisch gesehen nichts anderes über. Sie hatten ihn mal wieder eingefangen und ohne die ein oder andere Demütigung kam er hier nicht weg.
Das war so klar wie das Amen in der Kirche oder der Mond, der am Himmel hing.
Das Beste wäre, wenn er sich ganz schnell etwas einfallen ließ, wie er hier nur mit einem blauen Auge davonkam, aber sein Gehirn ließ ihn auch diesmal kläglich im Stich. Anstelle eines ausgeklügelten Plans mit vielen Actionstunts und geheimen Taktiken stand einzig das Wort Error, groß und fett, vor seinem inneren Auge.
Hastig huschte sein Blick von einem Jungen zum nächsten, suchte nach einer Lücke, durch die er entwischen konnte, auch wenn das einer Flucht glich.
Egal. Alles war besser, als das, was gleich kam.
Dann galt er eben als feige, aber dies war allemal besser, als das, was ihn erwartete, wenn er hierblieb und auf das Kommende wartete.
Er kannte es ja schon zur Genüge.
„Der macht sich gerade vor Angst in die Hose“, höhnte ein Blonder. Lachend fielen die anderen mit ein und zogen den Kreis um Manuel enger. Dieser konnte fünf Jungen zählen, aber schon drei wären zu viel gewesen. Manuel traute es sich nicht mal zu, gegen einen von ihnen anzukommen, auch wenn man bei Gefahr ja angeblich ungeahnte Kräfte freizusetzen vermochte.
Davon hatte Manuel bisher noch nichts gespürt.
Ein weiterer blonder Jugendlicher, der so aussah, als hätte er mindestens zwei Klassen jeweils dreimal wiederholen müssen, entriss ihm seine Tasche und durchwühlte sie. Manuel kannte ihn unter dem Namen Kevin. Schon seitdem dieser vor zwei Jahren auf dieser Schule auftauchte, hatte sich sein Leben an diesem Ort rapide verschlechtert.
So sehr sich Manuel bemühte unsichtbar zu sein, konnte er sich den Blicken von Kevin nicht entziehen. Gleich in der ersten Pause hatte er ihn verbal angepöbelt und sich mit zwei anderen Schulrowdys zusammengeschlossen. Die drei waren eigentlich immer zusammen unterwegs.
Fast wie siamesische Drillinge.
„Schaut euch das an“, lachte Kevin kalt und zog Manuels altes Klapphandy heraus. Es war ein uraltes, klobiges Ding, das schon mal bessere Zeiten gesehen hatte und manches Mal seine Startprobleme mit sich brachte. Manuel aber reichte es. Große Ansprüche waren bei solchen Dingen nicht vorhanden, zumal seine Mutter nicht zu den reichen Menschen zählte und er keinen Nebenjob besaß.
„Unser Wonder Pig kommt aus der Steinzeit. Seht euch das an“, lachte einer der anderen Jungs mit Namen Ernie und schnappte sich das Handy. Geübt tippte er eine Nummer ein und hielt es sich ans Ohr.
„Lasst das“, wagte Manuel etwas zu sagen. Er hatte zwar eh kaum noch Geld darauf, aber das musste ja nicht einfach so verschwendet werden. Fast augenblicklich bemerkte er allerdings seinen Fehler, als er das verdächtige Glitzern in den Augen seiner Mitschüler erkannte. Genau darauf hatten sie gewartet. Dass er endlich eine Reaktion zeigte oder etwas sagte.
Nicht, dass sie einen Grund brauchten, um ihn zu ärgern, aber es gehörte zu ihrem Spiel, das sie sich ohne Manuels Erlaubnis ausgedacht hatten und dessen Regeln er nicht kannte, maximal erahnen konnte.
„Sieh mal einer an. Das Schwein kann ja doch schnarchen“, lachte ein Dunkelhaariger, der auf den Namen Bernard hörte und sofort schloss Manuel den Mund. Das unruhige Kribbeln in seinem Bauch schwoll an und bescherte ihm eine leichte Übelkeit.
Kurz zuckte seine Hand zu seinem Bauch, aber er unterband es, sich darüber zu streichen, um seinen Magen zu beruhigen. Er wollte den Jungs, die ihm gerade wie wilde Tiere vorkamen, keinen Grund liefern, ihn anzugreifen oder sich noch mehr auf ihr Spiel zu versteifen.
Außerdem hasste er es, die Dinge verbal regeln zu wollen. Es brachte einfach nichts.
Zudem war dies ein weiterer Grund, warum er so ungern sprach. Alle hier auf der Schule, angestachelt durch Kevin und seine Truppe, sagten ihm, er höre sich an wie ein schnarchendes Schwein. Wenn sie sich nicht gerade ganz aus dem Trubel heraushielten.
Als das alles anfing, hatte er es noch seiner Mutter erzählt. Damals war er viel jünger und viel naiver gewesen, obwohl er damals schon fünfzehn Jahre alt war. Dennoch hatte er gehofft, dass sie das regeln konnte. Seine Mutter hatte tatsächlich mit den entsprechenden Schülern, den Lehrern und den Eltern gesprochen, vor allem, als die Situation fast zu Beginn das erste Mal eskalierte.
Damals hatte Kevin ihm tatsächlich eine Glasflasche nachgeworfen, war aber nur mit einer Verwarnung davongekommen. Die Flasche hatte Manuel zum Glück nur getroffen, bevor sie auf dem Schulhofboden zersprang, sodass er nicht großartig verletzt wurde.
Seine Mutter redete ihm immer gut zu und sagte, dass es nicht stimme, was die Jungs sagten, aber sie war nun mal seine Mutter. Sie konnte viel sagen.
Er hatte es dann einfach gelassen und tauchte jedes Mal, ohne zu klagen, daheim auf. Das war eindeutig stressfreier als alle anderen Möglichkeiten, die sich ihm boten.
Es war einfacher.
Wenn er etwas sagte, dann kamen Fragen und er hasste Fragen. Vor allem das Warum. Warum hat er das getan. Warum hast du dich nicht gewehrt. Warum, warum, warum. Manuel hasste es einfach. Er fand keine Antworten darauf und wünschte sich jedes Mal, nichts gesagt zu haben und der durch die fehlende Antwort entstehenden Stille zu entfliehen.
„Du willst uns doch nicht etwa sagen, was wir zu tun und zu lassen haben, oder?“, fragte Kevin und irgendetwas sagte Manuel, dass dieser heute eindeutig auf Streit aus war. Er glaubte nicht, dass er sich nur mit verbalen Schlägen begnügen würde. Wie recht er hatte, spürte er im nächsten Moment. Eine Faust fand ihren Weg zielgerichtet in sein Gesicht.
Schmerzerfüllt keuchte Manuel auf und taumelte zurück. Verdammt. Das nahm garantiert noch ein bitteres Ende, wenn Manuel jetzt nicht langsam die Flucht ergriff.
Um nach einem Ausweg zu suchen, hatte er allerdings keine Zeit. Eine zweite Faust fand ihr Ziel an seiner Schulter, sodass Manuel einfach versuchte loszustürmen. Blind und ohne seine Tasche aufzuheben. Gerade wollte er hier einfach nur noch weg und sich in Sicherheit bringen.
Weit kam er nicht, da fand er sich auf dem Boden wieder.
Manuel fühlte sich elend, wie sie da auf ihn einschlugen und eintraten. Kurz schwirrte sein Blick zwischen den Beinen seiner Peiniger hindurch, aber der Schulhof war leer. Niemand war hier, um ihm zu helfen. Wahrscheinlich würde, selbst wenn hier jemand war, dieser niemals eingreifen.
Hastig zog er den Kopf zwischen die Schultern und schlang seine Arme um diesen. Seine Gedanken waren in diesem Moment wie ausgelöscht. Alles von ihm konzentrierte sich darauf, die Schmerzen so gering wie möglich zu halten.
„Fetti, Fetti liegt am Boden. Fetti, Fetti macht sich in die Hosen“, lachten sie im Chor, während sie ihn weiter traten. Keiner von ihnen dachte daran aufzuhören, keiner zeigte Erbarmen. Dafür hatten sie einfach zu viel Spaß und, wie es bei Kevin offensichtlich der Fall war, zu viel Wut auf irgendetwas Unergründliches im Bauch.
Etwas Rotes kroch über Manuels Stirn und verschleierte seinen Blick, der Schwindel in seinem Kopf, direkt hinter der Stirn nahm zu, während sein ganzes Gesicht von einem unangenehmen, fast schon ekelhaften Kribbeln erfasst wurde.
Hilfe, war sein letzter Gedanke, ehe er in die erlösende Ohnmacht fiel.
-°-°-°-°-
Manuel fühlte sich wie auf Wolken schwebend, als er langsam wieder etwas wahrnahm. Es war so angenehm wie in seinem Bett, wenn er am Wochenende mal ausschlafen konnte. Am liebsten würde er einfach nur liegen bleiben und sich nicht mehr rühren. Keinen einzigen Finger und auch keinen Muskel.
Blöd nur, dass die Blase einem immer einen Strich durch die Rechnung machen musste. Mit jeder Minute, die verging, wurde der Druck penetranter und alles andere klarer. Zum Beispiel das Stechen in seinem Kopf, was die Kopfschmerzen ankündigte oder die taube Stelle an seiner Lippe, die sofort wehtat, wenn er mit der Zungenspitze vorsichtig drüber tastete.
Was war los? Wo war er? Und wieso tat ihm immer mehr weh?
Mit einem leisen Stöhnen versuchte Manuel die Augen zu öffnen.
Der erste Versuch misslang. Seine Augen waren so unendlich schwer und forderten ihn auf, lieber noch etwas zu schlafen. Ein wirklich guter Vorschlag, aber die Schmerzen und seine Blase ließen es nicht zu, dass er wieder abdriftete, weswegen er es erneut versuchte. Diesmal bewegten sich seine Augenlider soweit, dass er an eine weiße Decke über sich schielen konnte.
„Manuel?“, vernahm er eine weibliche Stimme direkt neben sich und ein Druck an seiner Hand wurde spürbar. Gehörte die Stimme nicht seiner Mutter?
War sie bei ihm im Zimmer und wollte ihn wecken? Aber warum hielt sie dann seine Hand?
„Mom?“, krächzte er und im nächsten Moment sah er sie über sich.
„Was ist los?“, wollte er wissen und spürte das sanfte Streicheln an seiner Hand.
„Du bist im Krankenhaus, aber mach dir keine Sorgen, ich rufe eine Schwester oder nein, den Arzt. Der wollte eh jeden Moment vorbeikommen“, erklärte sie bemüht ruhig.
Es war leichter gesagt, als getan, sich bei dieser Information keine Sorgen zu machen. Er ließ seine Mutter einfach gehen und versuchte etwas wacher zu werden. Es dauerte nicht lange, da kam sie mit dem Arzt wieder. Dieser untersuchte Manuel in aller Ruhe. Puls, Temperatur. Nichts Neues bei einem Arztbesuch.
„Die Schwestern haben mir bereits die Akte Ihres Sohnes gegeben. Er hat ganz schön was abbekommen. Die angeknackste Rippe ist das kleinste Übel, wird aber noch etwas wehtun. Die Nase allerdings wird noch brauchen, bis sie wieder ganz verheilt ist und die Schmerzen abklingen. Sie bekommen ein Rezept für ein Schmerzmittel“, erklärte der Arzt, was Manuels Mutter bedrückt seufzen ließ.
Manuel ließ sie mit ihm reden. Er hatte nichts dagegen und bekam ja sowieso das meiste mit.
„Danke, Herr Doktor Weiz. Wie lange muss er denn hierbleiben?“, fragte Manuels Mutter freundlich.
„Nun. Ich denke, wir behalten ihn noch ein, zwei Nächte zur Beobachtung hier und wenn dann alle Werte stimmen, kann er nach Hause“, antwortete Dr. Weiz und verließ das Patientenzimmer, um auch seine anderen Patienten aufzusuchen.
„Hast du gehört, Manuel? Du musst nicht lange hierbleiben.“ Mit diesen Worten wendete sie sich wieder an ihren Sohn, der sich schwerfällig aufzusetzen versuchte. Es war nicht einfach und er fühlte sich noch ein wenig wacklig, aber es klappte trotzdem.
„Hm, hm. Muss ich sofort wieder zur Schule?“, fragte Manuel, dem einfach unwohl war. Sofort setzte bei dem Gedanken das Grummeln in seinem Magen ein. Er wollte noch weniger als sowieso schon an diesen Ort zurück. Es war für ihn die Hölle pur.
Er hasste es förmlich und wollte niemanden von dort mehr sehen.
Dabei wollte er eigentlich auch nicht jammernd klingen, um seiner Mutter keine weiteren Sorgen zu bereiten. Sie hatte schon genug andere Probleme, wie er fand.
„Nein. Ich habe mir da etwas überlegt“, sprach sie nach kurzem Schweigen sanft und bekam einen fragenden Blick von ihrem Sohn.
„Nun, … wir wohnen schon so lange hier und es hat uns nie wirklich zugesagt. Wie wäre es mit einem Wohnortswechsel. Vielleicht tut dir das ja gut und du kannst dich etwas erholen. Du sprichst es vielleicht nicht mehr an, so wie früher, aber mir entgeht nicht, dass du mit dem Ganzen zu kämpfen hast“, erklärte seine Mutter ihm und erstaunte Manuel sehr.
Er hatte immer gedacht, dass er ein ganz passabler Schauspieler war und seine Mutter nichts mehr bemerkte, wenn er schwieg und sich nicht beschwerte.
Scheinbar war er nicht ganz so überzeugend, wie er dachte. Zudem hatte seine Mutter immer so ausgesehen, als liebe sie es, in diesem Dorf zu leben, und nun wollte sie hier weg?
Es wäre ein Traum diesen Ort zu verlassen, nur wie sollte das möglich sein? Sie hatten nicht die finanziellen Mittel für einen Umzug.
„Aber wohin denn und wie wollen wir uns das leisten?“, fragte Manuel in seiner Verwunderung, auch wenn er noch etwas müde war „Du träumst doch schon lange davon, in eine Großstadt zu fahren. Wieso erfüllen wir uns nicht deinen Wunsch und ziehen an einen solchen Ort“, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und bescherte ihrem Sohn damit große Augen.
Davon, eine der Großstädte wie Hamburg, Berlin, Köln oder Kassel zu besuchen, träumte er schon ziemlich lange. Einfach mal weg aus diesem Dorf. Auf und davon und am besten nie wieder zurückkommen. Das wäre zu schön um wahr zu sein.
„Wirklich?“, wollte er wissen und bekam ein Nicken als Antwort geschenkt.
„Das ist toll, Mom. Aber du hast dort gar keine Arbeit und wir haben auch kein Geld für den Umzug“, warf Manuel seine Bedenken erneut ein. Fast sofort breitete sich ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen seiner Mutter aus.
Wieso?
Hatte sie etwa eine Lösung dafür? Das wäre absolut spitze.
„Doch. Ich wollte dir vorerst nichts sagen, um dir keine falschen Hoffnungen zu machen, aber ich schaue mich schon etwas länger nach einer Alternative für uns um. Tatsächlich wurde ich in einem renommierten Restaurant angenommen und sie helfen uns sogar bei der Wohnungssuche. Für den Umzug habe ich, als der Entschluss feststand, dass ich mich auf Arbeitssuche begeben würde, jeden Monat ein wenig Geld beiseitegelegt“, erzählte sie ihm mit einem Zwinkern und umarmte ihren Sohn spontan. Sie musste zwar vorsichtig sein, aber Manuel erwiderte die Geste und schloss voller Erleichterung die Augen.
Endlich war es vorbei und er konnte ein neues Leben haben. Eines, in dem es nicht mehr so stressig war und wo er vielleicht wie früher wie ein Mensch behandelt wurde. So waren zumindest seine Gedanken, die er sich in diesem Moment zusammenspann.
„Das ist wundervoll, Mom.“ Manuel lächelte glücklich. Endlich würde er von diesen Idioten wegkommen. Von dem Ort, wo er keine Zukunft sehen konnte und sie demnach auch nie haben würde.
Er hoffte inständig, dass es in seinem baldigen zu Hause besser wurde. Vielleicht waren die da toleranter und offener, zumindest was sein Gewicht anging.
Er hoffte es so sehr!
Kapitel zwei:
Ungeduldig wartete Manuel die folgenden Tage im Krankenhaus auf den großen Tag. Dass es endlich so weit war und er hier wegkam.
Er konnte die Erleichterung und die Freude darüber kaum verbergen. Sie floss durch seinen Körper und nahm ihn völlig in Besitz. Es war ein angenehmes Gefühl, das Manuel schon ewig nicht mehr verspürt hatte. Seit drei Jahren um genau zu sein.
Linda. Seine Mutter hatte ihm bei einem ihrer Besuche erzählt, dass der Umzug im vollen Gang war. Die Möbelpacker waren schon einen Tag nach dem Überfall angerückt und hatten den Inhalt der Wohnung in einem Transporter verstaut. Wie Linda das in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt hatte, das wollte sie ihm nicht verraten. Vielleicht schuldete ihr ja irgendjemand einen Gefallen oder so?
So würden sie direkt vom Krankenhaus nach Berlin fahren.
Manuel war es nur recht, denn er hatte die Ahnung, dass die Jungs aus seiner Gegend und seiner Schule ihm vor seiner alten, ausgeräumten Wohnung auflauerten. Sollten sie dort warten, bis sie schwarz wurden. Manuel kam eh nie wieder zurück. Dieser Lebensabschnitt lag endlich hinter ihm.
So saßen sie am herbeigesehnten Tag in dem kleinen Wagen von Linda und fuhren die Feldwege und Autobahnstraßen zu ihrem Ziel entlang. Manuel war so schrecklich ungeduldig und glaubte, dass die Zeit überhaupt nicht mehr verging. Dann waren sie aber endlich da.
Sie fuhren gerade durch die Straßen Berlins.
Manuel sah aufmerksam aus dem Wagen. Er war noch nie in einer Großstadt gewesen, es war also sein Debüt.
Gerade hielten sie an einer roten Ampel, sodass Manuel einen guten Blick auf eine Gruppe Jugendlicher hatte, die lachend an einer Ecke neben einem Kiosk standen. Gerade lief auch eine alte Dame mit einem Pudel vorbei, der es sich nicht nehmen ließ, an die nächste Hauswand zu pinkeln.
Weiter vor sich sah er eine kleine Familie, die auf den Weg irgendwohin war. Das Kind auf den Schultern seines Vaters quietschte vergnügt. Die Mutter grinste leicht, als ihr Mann das Eis vom Mädchen ins Gesicht gematscht bekam.
Als sie weiterfuhren, sah Manuel noch zu dem Pärchen, bis dieses außer Sicht war. Das leichte Lächeln verschwand dabei keine Sekunde von seinen Lippen.
Er wollte seinem neuen Leben eindeutig positiv gegenüberstehen, sodass er geduldig die Menschen betrachtete, während sie quer durch Berlin fuhren und in eine etwas wohnlichere Gegend kamen. Dort dauerte es nicht mehr lange, bis Linda eine Auffahrt nach oben fuhr.
Vor ihnen war ein Haus, in dem drei Familien wohnen konnten.
„Wir wohnen ganz oben unter dem Dach. Komm. Es stehen schon alle Möbel“, erklärte Linda ihm, stellte den Motor aus und verließ den Wagen. Schnell befreite sich Manuel von seinem Gurt und folgte ihr etwas umständlich aus dem Auto. Die Tür schloss er schnell und ging Linda nach.
Seine Augen strahlten förmlich, als er den kleinen Vorgarten erblickte, der vor dem Haus angelegt war. Ihm gefiel es vom Äußeren bisher sehr gut.
Im Gegensatz zu ihrer alten Wohnung konnte man sich hier viel besser zu Hause fühlen. Es wirkte ruhig und familiär.
Sein Blick schweifte über die weiße Fassade des Hauses nach oben, betrachtete jedes Fenster, bis er hinter einem eine Bewegung wahrnahm. Manuel fühlte sich ertappt, auch wenn das unsinnig war. Er hatte ja nichts angestellt.
Hinter dem Fenster im zweiten Stockwerk stand ein Mann und sah zu ihnen herunter.
Er war bestimmt schon etwas älter, vielleicht Mitte der Zwanziger, hatte ziemlich dunkle Haut und starrte ihm entgegen. Manuel wurde bei dem Blick etwas unwohl. Leicht schluckte er, senkte den Blick und eilte seiner Mutter ins Treppenhaus nach.
„Kennst ... kennst du die anderen Bewohner schon?“, fragte Manuel. Er hoffte, dass er hier nicht sofort Ärger mit den Nachbarn bekam, wovon mindestens einer noch nicht so alt war, dass dieser auf die Jugend schimpfen konnte. Nun, können wahrscheinlich schon.
Er wollte einen Neuanfang, weswegen es sehr zum Vorteil war, wenn er sich mit den Leuten hier verstand.
„Nur Frau Lewing aus dem ersten. Gleich ganz unten. Sie ist eine sehr nette Frau, so wie ich sie kennengelernt habe, als ich zur Schlüsselübergabe kurz hier war“, antwortete Linda amüsiert und sah einen Moment zu ihrem Sohn rüber.
Dieser sah ihrer Meinung nach, mit dem Gips an der Nase, recht lustig aus, auch wenn die Ursache alles andere als das war. Manuel konnte da nicht wirklich drüber lachen, denn der Gips rundete seiner Meinung nach nur das Bild des dicken, unansehnlichen Jugendlichen ab.
Seine Sommersprossen trugen nämlich nicht zum schönen Erscheinungsbild bei.
Zwiegespalten folgte er Linda die Treppen hinauf, war schon ein wenig außer Puste, als er oben angekommen war, und betrat die Wohnung.
Es standen nur wenige Kartons im Flur herum. Linda musste noch lange eingeräumt haben. Die Kartons in seinem Zimmer waren dagegen komplett unausgepackt. Manuel fand es gut so, dann konnte er sich wenigstens einrichten, wie er wollte, ohne dass er seine Sachen erst suchen musste.
Vielleicht verschob er dann ja auch noch das ein oder andere Möbelstück.
Er würde seine Sachen heute Abend noch so weit ausräumen, wie er kam. Zumindest nahm er es sich vor. Ob er später noch daran dachte, war etwas anderes.
Als Manuel sich sein Zimmer näher besah, bemerkte er, dass sein Bett direkt unter der Dachschräge stand. In der Schräge war ein Fenster eingebaut, durch das er, wenn er lag, in den Himmel sehen konnte.
Er mochte das. So konnte er ein wenig seinen Träumen nachhängen und entspannen. Dabei noch etwas Musik hören und perfekt war es.
In seinem alten Zimmer hatte er das nicht machen können, da das Fenster nicht über, sondern neben dem Bett war.
Was allerdings neu war, war der Balkon. Bisher hatten er und seine Mutter noch keinen gehabt.
Neugierig betrat er diesen, um zu sehen, was die Aussicht versprach.
„Wow“, entkam es ihm überrascht. Es war vielleicht nicht der Garten, aber was er sah, gefiel ihm trotzdem. Er konnte über den Vorplatz und die angrenzenden Häuser sehen. Es war alles schön grün und kein Hochhaus war zu erkennen. Auch wenn die Straße direkt vor seinem Fenster lag, konnte es der Aussicht keinen Abbruch tun.
So konnte er zudem auch immer sehen, wenn jemand kam und ging.
Er fand es wirklich toll. Dass er sich gerade wie ein kleiner Junge freute, konnte man ihm sicher nicht übel nehmen. Sein Leben schien nämlich endlich wieder in geordneten Bahnen zu laufen. Zumindest hoffte er es, auch wenn die große Prüfung an seiner neuen Schule noch ausstand.
Manuels Blick wanderte über den Garten vor dem Haus.
Mit einem Mal aber vernahm er eine Tür weit unter sich und sah interessiert runter. Jemand verließ ihr Haus. Sein Blick wanderte über die Person. Er erkannte den Mann sofort wieder.
Es war der Dunkelhäutige, der unter ihnen wohnte und den er kurz zuvor noch am Fenster gesehen hatte.
Eben dieser schwang sich gerade auf sein Fahrrad, stockte aber im nächsten Moment und sah am Haus nach oben. Hatte er Manuel bemerkt? Dabei war er ganz still gewesen und hatte keinen Mucks von sich gegeben.
Aus reinem Reflex versteckte sich Manuel hinter dem Geländer. Er wusste nicht, warum er es tat. Es war einfach ein innerer Drang, nicht gesehen zu werden. Eventuellen Ärger aus dem Weg zu gehen. Dabei hatte er sich etwas ganz anderes vorgenommen. Er wollte den Menschen unvoreingenommen gegenübertreten und sich mit ihnen gut stellen.
Wie sollte das gehen, wenn er sich wie ein kleiner Junge versteckte? Das war wirklich selten dämlich von ihm. Einen Moment war er sauer auf sich selber.
Er vernahm nichts außer seinem schnell schlagenden Herz, bis der Kies knirschte und sich das Geräusch allmählich entfernte. Erst da wagte er es wieder, über sein Versteck hinwegzuspähen. Der Mann war weg, sodass er erleichtert seufzte und sich ganz erhob.
„Manuel? Ah, hier bist du ja. Packst du noch deine Sachen aus, oder willst du dir erst die Gegend anschauen?“, fragte Linda, die den Balkon betrat und die Aussicht genoss.
„Ich packe heute Abend aus. Ich wollte mich ein wenig umschauen gehen. Soll ich unterwegs irgendwas besorgen?“, bot Manuel an und schon glitzerten Lindas Augen verheißungsvoll.
Er bereute es fast sofort, ihr das Angebot gemacht zu haben. Aber er war nun mal höflich erzogen worden. Nur leider nutzte Linda das gerne mal aus, um ihm die Einkaufsliste in die Hand zu drücken. Wie gut, dass er sie trotzdem liebte.
„Warum biete ich ihr auch dauernd an, etwas zu holen, wenn ich unterwegs bin“, grummelte Manuel und sah auf den Einkaufszettel, den Linda ihm tatsächlich überreicht hatte.
Es waren schon ein paar Sachen, aber das konnte seiner Fitness ja nur guttun. Also steckte er den Zettel weg und sah sich etwas um. Die Gegend, durch welche er lief, war ziemlich ruhig.
Da es heute ein wenig kühl war und er trotz seiner Fettpölsterchen fröstelte, hatte er sich eine weite Jacke angezogen und einen Schal um den Hals gebunden.
Während er seinen Blick schweifen ließ, vergrub Manuel seine Hände in den Jackentaschen.
Es war eine wirklich schöne und ruhige Gegend. Überall waren Dreifamilienhäuser mit Vorgärten. Weiter vor sich sah er ein paar Kinder in die Richtung laufen, in die er auch wollte. Wenig später wusste er, wohin sie alle wollten, als er an einem großen Spielplatz vorbeikam.
An diesen grenzte ein Sportplatz mit Körben und Fußballtoren. Er konnte auch Tischtennisplatten erspähen. Scheinbar war dies der Treffpunkt für die Jugendlichen und Kinder aus der näheren Umgebung.
Manuel trat etwas näher heran, blieb stehen und besah ihn sich näher. Es war keiner auf dem Sportplatz und keiner an den Tischtennisplatten und auch der Spielplatz war bis auf zwei Mütter mit ihren Kindern leer. Die Kinder waren nicht älter als fünf Jahre und spielten Ball auf der angrenzenden Wiese.
Manuel lächelte leicht, als er die Kinder beobachtete, und lehnte sich dabei an das Gitter zum Sportplatz. Die erinnerten ihn irgendwie an seine Jugend mit seinen Freunden, in seiner alten Heimat. Ob es ihnen wohl gut ging? Eric, Louis und Hannah? Gerne würde er sie mal wieder besuchen fahren.
Gerade schoss einer der Jungs ein Tor und jubelte lautstark.
Als er lautes Lachen vernahm, fiel Manuels Blick auf einige Jugendliche, die näher kamen. Sie wollten wohl auf den Sportplatz. Zumindest zeugte der Ball, den sie unter sich herumwarfen, davon.
Manuel spürte tief in sich drin eine Unruhe, die er sonst immer hatte, wenn er den Schulhof seiner alten Schule betrat oder einen der rüpelhaften Schlägerjungs erspähte. Hatten sich die drei Jahre etwa so nachhaltig auf ihn ausgewirkt? Manuel wollte es nicht glauben, entfernte sich aber trotzdem schnell von dem Gitter.
Er wollte keinen Streit provozieren, aber die Jungs ignorierten ihn einfach. Sie betraten den Sportplatz und fingen an, Basketball zu spielen. Jeder hatte seine Position und jeder wusste, wie er spielen musste.
Manuel hatte sich auf einer der Schaukeln auf dem angrenzenden Spielplatz niedergelassen. Von da konnte er die Jugendlichen bei ihrem Spiel beobachten.
Gerne würde er auch mitspielen, aber dafür hatte er erstens zu viele Komplexe und zweitens eine zu schlechte Kondition.
Es war wirklich traurig.
Sein Blick wanderte über jeden einzelnen der Jungen, bis sein Blick auf dem Blonden verharrte.
Noch eine Sache, die damals in dem Dorf zu einer miesen Behandlung geführt hatte. Schon immer hatte er lieber den Jungs als den Mädchen nachgesehen. Kevin hatte es bemerkt und ihn fast ein Jahr lang dafür fertiggemacht, bis es ihm zu langweilig wurde und er neue Dinge fand, die Manuel mehr zu schaffen machten.
Jetzt aber fing ein neues Leben an, vielleicht fand er ja auch ein interessantes Mädchen. Dann wäre wenigstens das Problem, Jungs auf den Hintern schauen, endlich abgeschlossen und er konnte es als Phase abstempeln.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Dafür wendete er konsequent den Blick von dem blonden Jungen ab, erhob sich und verließ den Spielplatz, ohne sich noch mal umzudrehen.
Sein Weg führte ihn zu einem Supermarkt in der Nähe. Also war es nicht weit, wenn sie mal einkaufen mussten. Das war dann ein weiterer Pluspunkt.
Der Erste war die schöne Gegend. Der Zweite der Sportplatz in der Nähe, den er vielleicht das ein oder andere Mal ausprobieren würde.
Als er den Laden betrat, zog er die Liste seiner Mutter hervor und arbeitete sie allmählich ab. Butter, Milch, Brot, Marmelade, Obst, Gemüse und wer wusste was nicht noch alles. Als er alles hatte, stellte er sich an die Kasse, bezahlte den Betrag und verließ den Markt mit zwei prall gefüllten Tüten.
Manchmal fragte er sich wirklich, warum Linda nicht mit dem Auto einkaufen fuhr. Gut, er hatte ihr angeboten, etwas einzukaufen, aber bei den Mengen wäre ein Auto wirklich von Vorteil.
Schleppen durfte er auch, wenn sie mal Shoppen ging und ihn mitnahm. Da war er der Packesel, während die Tüten sich wie Kaninchen vermehrten. Zum Glück kam das eher selten vor, aber beim nächsten Mal, so nahm er es sich vor, würde er sich unauffällig verdrücken.
Linda bekam es garantiert nicht mit und er konnte sich etwas Entspannenderem widmen.
Sich Absetzen.
Leise murrte Manuel, als die Plastikgriffe schmerzhaft in seine Hände schnitten, sodass er sie nach einer Weile absetzen musste. Vorsichtig rieb er über die roten Stellen in seinen Handflächen, entfernte dann den Schal von seinem Hals und steckte ihn in die Tüte. Durch das Tragen war ihm ziemlich warm geworden. Sich aufrichtend drückte er den Rücken durch.
Es knackte unangenehm, aber er war es schon gewohnt. So griff er sich die Tüten und machte sich wieder auf den Weg.
Mit gesenktem Kopf, aber sehr aufmerksam, ging er an den Leuten vorbei.
Das hatte er sich in den letzten Jahren angewöhnt. Er wollte niemandem in die Augen sehen und provozieren.
So bemerkte er sofort, dass irgendjemand an seinen Fersen hing. Konnte die Person ihn nicht einfach überholen? Er versperrte ja nicht den ganzen Fußgängerweg. Neben ihm war genug Platz.
Selbst nach zwei Dutzend weiteren Schritten folgte ihm die Person noch immer. Dabei war er auch ein paar Mal abgebogen. Etwas unzufrieden sah er endlich auf und zur Seite zu der Person, die ihn etwas nervte. Schon als er das erste Stückchen dunkle Haut sah, erkannte er, um wen es sich handelte. Dabei gab es hier in Berlin sicher ein paar mehr Menschen mit einer solchen Hautfarbe.
„Hallo. Du bist doch mit deiner Mutter über mir eingezogen. Richtig?“, fragte der dunkelhäutige Mann neben Manuel ruhig, aber auch interessiert.
Manuels Augen weiteten sich unmerklich, da ihn der Kerl tatsächlich einfach ansprach, als wäre er wie jeder andere auch. Abgesehen von seinen Freunden in seiner ersten Heimat und seiner Mutter tat es kaum jemand. Schnell fing er sich wieder und nickte auf die Frage, um nicht unhöflich zu sein.
„Ich bin Hakim Kutesa und wie ist dein Name?“, fragte der Mann, während er sein Fahrrad neben Manuel herschob.
„Manuel ... Manuel Baumann“, gab dieser leise zurück und wandte den Blick wieder ab. Was wollte der Kerl von ihm? Nett sein? Manuel hoffte es wirklich, zumal er noch nie etwas mit einem solchen Mann zu tun hatte. In seinem alten Dorf gab es kaum Ausländer. Nicht, dass er etwas gegen sie hatte. Nein, wirklich nicht.
„Manuel? So, so. Das hört sich recht Deutsch an“, stellte Hakim nachdenklich fest.
„Ja. In meiner Verwandtschaft sind alle deutsch, soweit ich weiß ... und du?“, fragte Manuel nach kurzem Zögern und schielte wieder zu ihm rüber, musterte dessen wirklich sehr ansehnliche Gestalt.
Hakim war einen ganzen Kopf größer als er selber. Dessen Statur war schlank, mit vielen Muskeln versehen. Seine Haare bestanden aus Schulterblatt langen, tiefschwarzen Rastazöpfen.
Als Hakim ihn musterte, erkannte er ebenso tiefschwarze Augen. Nervös leckte sich Manuel über die Lippen.
„Ich bin Deutschland geboren, habe aber afrikanisches Blut in meinem Körper“, antwortete er Manuel, fragte dann aber noch, ob er ihm etwas von dem Einkauf abnehmen sollte.
Verwirrt sah ihn Manuel bei der Frage an. Hielt er ihn für so schwach, dass er ihm etwas abnehmen musste?
„Nein. Geht schon“, lehnte Manuel kopfschüttelnd ab, trug seinen Einkauf eisern selber weiter.
Hakim zuckte nur mit den Schultern und ließ ihn.
„Woher kommt ihr denn?“, fragte Hakim, ohne lange zu zögern, weiter, da Manuel verbissen schwieg.
„Schamhorst. Kleines Dorf mit ca. 700 Einwohner“, antwortete Manuel, zuckte mit den Schultern und spürte dabei deutlich das Gewicht der Tüten.
„Kenne ich nicht und wie alt bist du? Gehst du noch zur Schule?“, wollte Hakim weiter von ihm wissen und bekam einen knappen Seitenblick von Manuel. Nur kurz darauf standen sie auch schon vor ihrem Haus. Sein Nachbar erschien Manuel ziemlich neugierig, so wie dieser ihn ausfragte.
„17 bin ich und gehe in die elfte Klasse“, gab Manuel die gewünschte Antwort und stellte die Tüten ab, um den Schlüssel herauszukramen. Seine Hände waren vom Tragen ziemlich warm und schmerzten.
Als die Tür offen war, betrat er schnell das Haus, und ohne Hakim, der sein Fahrrad in den Keller brachte, noch mal anzusehen, verschwand er die Treppen nach oben.
Dieser Afrikaner war ihm nicht ganz geheuer mit dessen Interesse an ihm. Als er oben war, ging sein Atem etwas schneller, was er aber ignorierte.
In der Wohnung brachte er den Einkauf in die Küche und nahm sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken. Entspannt schloss er die Augen, auch wenn seine Gedanken noch immer um seinen neuen Nachbarn kreisten. Eigentlich schien er ganz nett gewesen zu sein.
„Manuel? Oh, du bist ja schon wieder da“, sprach Linda, als sie in die Küche kam und ihn entdeckte. Manuel setzte auch direkt das Glas ab.
„Ja. Hier, der Einkauf. Ich gehe in mein Zimmer. Ein bisschen die Kartons auspacken“, erwiderte er und verschwand eilig in sein Zimmer.
Nicht, dass sie noch auf die Idee kam, ihn auch noch den Einkauf einräumen zu lassen, wäre ja noch schöner, darauf hatte er keine Lust. Er half wirklich gerne, aber manchmal war es auch ihm zu viel, so wie eben jetzt gerade.
Als er die Tür hinter sich schloss, kniete er im nächsten Moment schon neben der ersten Kiste und öffnete sie. Linda hatte sie gepackt, sodass er nicht wusste, was in welcher war. Außen stand zumindest nichts, was auf den Inhalt deutete. So fand er zuerst seine Bücher, die er in aller Ruhe in die Regale einräumte. Er hatte nicht unbedingt wenige, da er sehr gerne las.