Kapitel eins:
Es passierte so verdammt oft. Sie wollten einander an einem Ort treffen, hatten einen Tag und sogar eine feste Uhrzeit ausgemacht. Doch es geschah immer wieder. Sogar nach einem Jahr Beziehung klappte es noch nicht. Julian konnte die Male, die sein Freund ihn nun schon im Regen stehen ließ oder auch nur fast versetzte gar nicht mehr zählen. Seine Finger reichten dafür bei Weiten nicht mehr aus, selbst wenn er noch die von anderer Personen dazu nahm, würde es nicht klappen. Wieso nur konnte er einfach nicht pünktlich sein? Woran konnte es liegen? Waren seinem Freund die Verabredungen nicht wichtig genug? War ER ihm nicht wichtig genug?
Seufzend blickte Julian schon zum zwanzigsten Mal auf die große Kirchturmuhr, die hinter ihm, ziemlich weit oben hing.
Dieser Platz war schnell zu ihrem Treffpunkt geworden. Eine Bank vor der großen alten Kirche auf dem Rathausplatz. Die Fassade des Heiligtums wirkte sehr verwittert und teils heruntergekommen. Trotzdem kamen sehr viele Leute her, um den Gottesdiensten, die hier stattfanden, beizuwohnen. Julian waren sie nicht unbekannt, auch wenn er im Gegensatz zu seinen Eltern nicht allzu oft daran teilnahm. Er sah die Besuche nicht als Pflicht, auf dass Gott ihm seine Sünden vergab. Es war einfach schon eine Gewohnheit, die er aus seinem Elternhaus mitbekommen hatte.
Zudem glaubte er auch nicht daran, dass das, was er tat, wirklich eine Sünde war. Er war ein Mensch und jeder von ihnen machte Fehler. Zudem verliebte sich auch jeder Mensch irgendwann einmal und selbst wenn die einen behaupteten, es wäre nicht richtig, dass er sich für seinen Freund entschied, so wusste er doch selber, dass sein Herz niemals falsch wählte. Nur leider hatte ihn gerade dieses niemals davor gewarnt, dass die Liebe seines Lebens ihn andauernd versetzte und er sich so oft in Geduld üben musste.
Auch dieses Mal war es der Fall.
Wie oft passierte ihm das jetzt eigentlich schon? Julian hatte irgendwann aufgehört mitzuzählen. Es war wirklich jedes Mal das gleiche mit Taro. Immer verspätete er sich, so auch an diesem kalten Wintertag. Es lag vielleicht noch kein Schnee, aber die Temperaturen krochen mittlerweile unter die Null-Grad-Marke und zudem war es einfach nur saukalt. Selbst seine dickste Jacke mit dem kuscheligen Winterfell gab die ihr zugewiesene Aufgabe auf und ließ die kalte Luft herein. Julian konnte schwören, dass irgendwo ein Riss war, aber so sehr er auch suchte, er fand keinen. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein.
Eines stand dagegen schon fest. Er wollte das nicht mehr lange mitmachen. Wenn jetzt noch Schnee dazukam, dann hatte es auch der letzte Tropfen in das bereits überlaufende Fass geschafft.
Julian konnte ja nicht einmal in der Kirche Unterschlupf für die Zeit suchen, die er hier warten musste. Würde er es doch machen, so hätte er keine Möglichkeit, Taro, wenn dieser denn kam, zu bemerken, denn die Eingangstür der Kirche lag etwas seitlicher und verwehrte somit den Blick auf ihren Platz, die Bank vor der Kirche.
Fröstelnd rieb sich Julian die Hände und hauchte seinen warmen Atem hinein, nur um sich wenigstens etwas aufzutauen. Es blieb bei einem Versuch, weswegen er seinen Schal etwas enger band und die Eisfäuste in die Manteltaschen schob. Nebenher hüpfte er von einem Bein auf das andere, in der Hoffnung, dass er nicht doch noch ein Eisklotz werden würde.
Julian hatte es so satt, andauernd auf diesen Mann warten zu müssen, warum auch immer.
Zum wiederholten Mal blickte er auf die Uhr und danach in der Gegend umher, nur um ihn endlich zu entdecken. Grünes Haar wehte Taro beim Rennen hinterher, während er völlig außer Puste sein Tempo noch mal etwas anzog. Die grünen Augen Taros hatten ihn sofort erblickt. Schwer atmend legte er einen letzten Spurt ein und kam vor Julian zum Stehen.
Abrupt legte er die Hände aneinander, sah ihn bittend an und meinte entschuldigend „Verzeih die Verspätung, Julian. Ich wurde aufgehalten.“
„Wie so oft“, grollte Julian beleidigt und wandte sich von dem Älteren ab. Er kannte dieses Spiel schon zur Genüge.
„Bitte sei nicht böse, Juli“, bat Taro ihn und trat mit noch immer schwerem Atem um ihn herum, nur um ihn mit seinem weltbekannten bettelnden Welpenblick anzusehen.
Julian spürte sofort, wie sich die Wut tief in seinem Innern legte. Dabei wollte er doch eigentlich viel, viel länger sauer sein. Er wollte Taro zappeln lassen, bis dieser ein schlechtes Gewissen bekam. Er sollte merken, wie sehr es ihm missfiel, aber bei diesem Blick konnte er es nicht.
Julian konnte nicht an seinen Vorsatz festhalten, konnte Taro nicht zeigen, wie sehr es ihn verletzte, dass er ihn immer und immer wieder im Regen stehen ließ. Taro wusste einfach wie er ihn herum bekam. Er wusste es von Anfang an. Seit dem Beginn ihrer Beziehung.
Unsicher blickte Julian den Grünhaarigen an. Er durfte jetzt nicht nachgeben, durfte es nicht erneut zulassen. Es musste endlich Klartext mit seinem Freund gesprochen werden, denn sonst würde ihn Taro auch in Zukunft versetzen. Nichts würde sich ändern.
„Nein Taro. Diesmal nicht. Immer lässt du mich warten. Wirklich jedes Mal. Ich habe es so satt. Heute habe ich keine Lust mehr, aber ich gebe dir noch eine Chance. Morgen 14 Uhr wieder hier.“
Mit diesen Worten wandte sich Julian ab. Er wollte Taro zurücklassen, hielt aber noch mal inne, allerdings ohne ihn anzusehen. Er hätte sein Vorhaben sonst einfach nicht durchgehalten. Vielleicht hätte er sich Taro an den Hals geworfen, vielleicht das Ganze aber auch abgewiegelt und sich wieder einlullen lassen.
„Und Taro? Nur zur Info. Du besitzt ein Handy. Nutze es.“
Mit schnellen Schritten entfernte sich Julian von diesem Ort und ließ seinen Freund einfach stehen.
Dieser sah ihm in diesen Moment wohl gerade völlig verblüfft nach. Julian konnte es sich ganz genau vorstellen.
Aber sollte er es ruhig machen. Julian wollte sich das alles nicht mehr gefallen lassen. Zu einer Beziehung gehörten schließlich immer zwei Personen.
Er liebte Taro ja eigentlich abgöttisch, aber dieses ständige Zuspätkommen machte ihn wahnsinnig.
Leise fluchte er vor sich hin, während ihn seine Schritte zu Linda führten.
Linda war ohne Wenn und Aber seine beste Freundin.
Als eine der Wenigen, die ihm damals vor einem Jahr beistanden, als er seine schwule Ader entdeckte, war sie ihm heute umso wichtiger.
Damals war Taro der Anstoß dafür gewesen, als er seine Vorliebe für alles niedliche, wie auch seine Shoppingleidenschaft entdeckte. Er war auch jetzt noch sein erster fester Freund. Julian konnte es sich nicht vorstellen, jemals von diesem Mann getrennt zu sein. Nein, dafür liebte er ihn einfach zu sehr. So sehr, dass er es oftmals nicht in Worte zu fassen schaffte. Leider tat es dann auch doppelt so weh, wenn Taro ihn erneut versetzte oder auch nur fast und es für ihn scheinbar nichts Schlimmes war.
Als er endlich bei Linda ankam, musste er nach dem Klingeln nicht lange warten und wurde gleich hereingelassen. Er musste die Treppen bis in das dritte Stockwerk hinauflaufen, wo eine junge Frau mit rotem Haar schon auf ihn wartete.
„Hey Süßer“, grüßte sie ihn strahlend und wollte ihm wie jedes Mal ein Küsschen rechts und links auf die Wangen drücken, aber als sie sein missmutiges Gesicht sah, wusste sie sofort was los war. Sie ließ die Küsschen Küsschen sein und ging einen Schritt zur Seite.
„Hat er dich wieder warten lassen?“
„Ja. Fast 45 Minuten. Das muss nun wirklich nicht sein. Er hat doch ein Handy. Wieso kann er mir nicht Bescheid geben, wenn es mal später wird?“, schimpfte Julian enttäuscht. Betrübt trat er an Linda vorbei in den Flur, wo ein großer Spiegel hing. Er warf nur einen flüchtigen Blick hinein, erkannte aber einen hübschen, schwarzhaarigen jungen Mann mit grünen Augen. Seine schlanke Figur wies absolut keine Muskeln auf und mit seinen zarten 18 Jahren und zwei Monaten war er ein richtiger Spätzünder. Taro hatte ihm zum Geburtstag sein erstes Mal geschenkt. In dieser Hinsicht war er vielleicht um einiges später dran als viele seiner Freunde, aber er bereute es nicht. Nicht ein klitzekleines Bisschen. Gewiss es war kitschig, aber er schätzte sich glücklich, dass es Taro gewesen war, der ihn in all das eingeführte.
Mit einem leisen Seufzen auf den Lippen folgte er seiner Freundin in das Wohnzimmer, wo er sich wie gewohnt auf das Sofa schmiss und die Beine anzog. Er nutzte die Gelegenheit auch, um Linda noch davon zu erzählen, dass er Taro diesmal hatte stehen lassen. Auch von der letzten Chance erzählte er. Gewiss. Es tat ihm weh, dass er es als “letzte Chance“ betitelte, aber nichts anderes war es in diesem Moment.
Ob er Taro dann wirklich verlassen konnte, wenn dieser am nächsten Tag nicht pünktlich aufkreuzte, das wusste er nicht, trotzdem wollte er jetzt daran festhalten.
„Ich hoffe für ihn, er vermasselt es nicht“, seufzte Linda und bot ihn einen Tee an, welchen Julian nur zu gern annahm.
Um sich ein wenig abzulenken, sprach er mit Linda über alles mögliche, wobei seine Gedanken immer wieder zu Taro abschweiften. Er hoffte wirklich um ihrer Beziehung Willen, dass er morgen pünktlich an ihrem Treffpunkt auftauchte.
Am folgenden Tag machte Julian sich auch auf den Weg zu ihrem vereinbarten Treffpunkt. Er betete so sehr, dass sein Freund heute endlich einmal pünktlich war, was aber nicht hieß, dass sie um ein klärendes Gespräch herum kamen. Er musste sich endlich mit dem Älteren aussprechen, ihm sagen wieso er zu dieser Entscheidung kam und wieso er die Verspätungen nicht mehr akzeptieren konnte. Es war einfach notwendig, denn er wollte schlussendlich noch sein gesamtes Leben mit diesem Mann verbringen.
Er war zehn Minuten vor der verabredeten Zeit an ihrem Platz und fröstelte ein wenig. Ihm schien es, als sei es seit dem gestrigen Tag noch viel kälter geworden. Als lachte das Wetter ihn höhnisch aus, während er hier stand, hoffte und bangte.
Sein Blick huschte kurz zur Kirchturmuhr. Was sollte passieren, wenn Taro heute wieder zu spät kam? Julian konnte es sicher nicht noch mal auf sich sitzen lassen.
9 Minuten.
Er wollte Taro diesmal nicht verfallen, wenn dieser sich durch Zärtlichkeiten bei ihm entschuldigte, denn das tat er jedes Mal. Entweder ein liebevoller Kuss oder ein schöner Abend. Immer war es etwas, das Julians Herz berührte und seine Gegenwehr schmelzen ließ.
8 Minuten
Schaffte Taro es einmal in diesem Leben? Die Male, wo er pünktlich war, konnte Julian an einer Hand abzählen und das in dem einzigen Jahr, das ihre Beziehung nun schon andauerte.
7 Minuten
Julian seufzte auf und ließ den Blick wandern. Seine Hände rieb er fröstelnd aneinander und vergrub sie danach in seiner Jackentasche. Leicht verlagerte er das Gewicht immer wieder von einem Bein auf das andere, hoffte dabei dass es so wärmer wurde.
6 Minuten
Die Zeit schien heute wiedermal gar nicht voran zu schreiten. Als wollte sie ihm das Warten erschweren und ihn zu allem Überfluss auch noch quälen.
5 Minuten
Konnte Taro denn nicht auch einmal früher erscheinen? Ihm ein Mal diese Freude machen? Nein. Sein Freund hatte eine recht lockere Auffassung des Wortes „Termin“. Auch damals, als sie noch nicht zusammen waren. Er hing gerne den halben Tag im Park herum und faulenzte. Zumindest war es das, was er ihm erzählt hatte.
4 Minuten
Wie hatte er sich nur in diesen Mann verlieben können? Es war eigentlich dessen Charme gewesen. Taros anziehende Art und sein immer freundliches Lächeln.
„Taro“, seufzte Julian, der den Blick in gedankenverloren schweifen ließ.
3 Minuten
Wo war er nur? Wollte er diese Chance nicht annehmen? War ihm ihre Beziehung so wenig wert? Dabei hatte Taro ihm doch immer beteuert, dass er ihn über alles liebte. Warum haperte es dann immer an diesem einen Punkt? An der Pünktlichkeit?
2 Minuten
Immer hatte er eine neue Ausrede auf Lager. Mal wurde er von Freunden abgelenkt. Mal hatte er verschlafen. Mal hatte er sich besonders hübsch machen wollen. Oder jemand habe bei ihm daheim angerufen und er habe die Zeit vergessen. Es gab noch viel bessere Ausreden, aber Julian war es Leid, immer wieder eine von ihnen hören zu müssen.
1 Minute
Das wurde wohl nichts mehr. Julians Blick wurde traurig. Enttäuscht. So viel bedeutete er Taro also. Julian folgte dem Sekundenzeiger der großen Turmuhr wie sie das untere Ende erreichte. Er ließ seinen Blick über die Menschenmassen gleiten.
Nichts.
Der Sekundenzeiger kam dem oberen Ende der Zwölf bedeutend näher. Dann ertönte endlich der laute Kirchengong, der ihm zurief, dass die Zeit um war. Ja, die Zeit war um und es war aus und vorbei.
Taro war nicht gekommen.
Julian kniff die Lippen aufeinander. Er hatte ihn erneut versetzt. Julian wandte sich mit geballten Fäusten ab, nur um mit einer der Hände an sein Handy zu stoßen. Hastig zog er es aus der Tasche. Vielleicht hatte sein Freund ja angerufen und er hatte es in seiner Grübelei und seinen Gedanken einfach nur überhört. Aber nichts. Keine Nachricht und auch kein Anruf in Abwesenheit.
„Taro, du Dummkopf“, knurrte Julian und stopfte das Handy in seine Tasche zurück und senkte den Blick auf seine Hand. Dort entdeckte er einen rosa Schmetterlingsring. Taro hatte ihm diesen vor etwa einem halben Jahr geschenkt. Es war nur ein billiger und äußerst kitschiger Ring aus dem Kaugummiautomaten an der Marktstraße gewesen, aber für Julian bedeutete er weit mehr. Er ballte die Hand erneut und setzte sich, ohne sich noch mal um zu sehen, in Bewegung.
Er wartete nicht noch ein Mal. Taro hatte es verspielt. Er hatte es ihm doch gestern deutlich genug gesagt oder etwa nicht?
Aber bestimmt kreuzte Taro heute Abend bei ihm auf und bat wie immer um Entschuldigung. Diesmal wollte er ihm die Tür allerdings vor der Nase zuschlagen. Julian nahm es sich fest vor. So fest er nur konnte. Kurz kniff er bei diesem Gedanken sogar die Augen zusammen, während er wusste, dass dieses Vorhaben gar nicht so leicht werden sollte.
Der Abend brach an und die Nacht verging.
Taro kam nicht bei ihm vorbei und Julian war verwirrt, aber auch traurig. Jetzt hielt dieser es wohl nicht mal mehr nötig sich wenigstens zu erklären. War er vielleicht zu hart gewesen, als er ihn einfach auf dem Platz vor der Kirche hatte stehen lassen?
Der nächste Tag kam und ging, ebenso der Übernächste Tag.
Was war nur mit Taro? Das war einfach nicht dessen Art. Taro war doch jemand, der Probleme gleich ansprach und sie immer sofort löste. Er war einfach ein friedliebender Mensch, mit einer ausgeglichenen Ader.
Julian begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Ganz gleich was er sich vorgenommen hatte, das konnte nicht normal sein. Das war einfach nicht Taros Art und er glaubte auch nicht, dass Taro ihm jetzt eins auswischen wollte. Dass dieser ihn auf so grausame Art zappeln ließ und sich vielleicht noch einen Spaß daraus machte.
Allein schon um diese finsteren Gedanken zu vertreiben und um seine Sorge zu besänftigen, ging er am dritten Tag bei seinem Freund vorbei.
Nervös stand er unten vor der Haustür und sah an der Fassade hinauf. Was war, wenn Taro ihm öffnete und ihn wieder fortschickte? Wenn er ihm sagte, dass er selber Schuld daran war und sich trennen wollte. Vielleicht ging er ihm ja auch auf die Nerven oder er brauchte seine Freiheit wieder?
Aber vielleicht war er auch gar nicht zu Hause und stattdessen unterwegs. Typisch fürs Wochenende und er konnte es ihm nicht verübeln, auch wenn sie ihre Zeit oft gemeinsam verbrachten.
Zitternd vor Kälte blieb er vor der Tür stehen, sah die Straße rauf und runter. Niemand war unterwegs und Julian wäre jetzt gerade auch am liebsten daheim, wahlweise bei Taro auf dem Sofa und in dessen Armen.
Langsam hob er seine eiskalten Hände vor den Mund und hauchte erneut in diese, nur um sie aneinander zu reiben. Vom rumstehen wurde ihm gewiss nicht warm und hinter einem der Fenster im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegte sich eine Gardine. Eine ältere Frau sah zu ihm heraus und beobachtete ihn misstrauisch, was Julian äußerst unangenehm war.
Schnell drehte er sich wieder zur Tür herum und suchte mit seinem Finger an den Klingelschildern nach dem Namen seines Freundes. Er fand ihn sofort und war auch in tiefster Nacht in der Lage dazu, nur zögerte er noch einen Moment, ehe er den Knopf drückte.
Es vergingen Sekunden und Minuten des Wartens, in der der kalte Wind seine Chance wahr nahm und versuchte unter seine Kleidung zu kriechen.
Erneut drückte Julian den Klingelknopf, erneut blieb der Summer aus. Niemand öffnete ihm, sodass er zur letzten Möglichkeit griff. Mit steifen Fingern griff er wieder in seine Tasche und zog seinen Schlüsselbund hervor, an welchem der Ersatzschlüssel seines Freundes hing. Er nahm ihn zur Hand und schloss die Tür auf. Taro hatte ihm diesen nach zwei Monaten Beziehung einfach in die Hand gedrückt. Julian erinnerte sich noch, als wäre es gestern gewesen. Er hatte sich so gefreut und den Schlüssel fest an sein Herz gedrückt.
Schnell huschte Julian ins Treppenhaus hinein und die Stufen zur Wohnung hinauf. Auch dort klingelte er sicherheitshalber noch einmal, aber das Ergebnis veränderte sich auch hier nicht. Niemand öffnete ihm, sodass er hier ebenfalls auf den Schlüssel zurückgriff und sich selber Einlass verschaffte.
Als er auch diese Tür öffnete, empfing ihn eine unangenehme Stille. Er spürte sofort, dass kein Taro da war. Wie eine innere Eingebung, der er sich nicht verschließen konnte.
Unsicher ob er das Richtige tat, setzte er einen Schritt in den Flur in Richtung des Wohnzimmers. Gewiss riss Taro ihm nicht den Kopf ab, schließlich war er schon öfter hier gewesen, während sein Freund unterwegs war, doch gerade fühlte es sich einfach nicht richtig an. Er kam sich wie ein Eindringling oder ein ungebetener Gast vor. Hastig schluckte er den Kloß in seinem Hals hinab und durchquerte den Flur komplett.
Schon auf den ersten Blick, sah er, dass die Wohnung wie immer aufgeräumt war. Alle Schuhe standen ordentlich in Reih und Glied und auch die Jacken hingen an der Garderobe. Alles wirkte wie immer. Selbst Minka, die kleine Katze, kam wie immer herbeigeeilt.
Das einzig Seltsame an ihr war eine ungekannte Aufdringlichkeit. Sie strich schnurrend um seine Beine herum, sah ihn aus großen grünen Augen an und versuchte sogar an seiner Hose hinaufzuklettern. Verwundert sah Julian zu der Katzendame hinunter und löste sie von seinem Bein, um sie auf den Arm zu nehmen. Normalerweise liebte sie es, herumgetragen zu werden, aber heute sprang sie sofort wieder runter und eilte in Richtung Küche. Nur kurz sah er sich um, folgte ihr dann aber in die Küche. Diese stand schon vor ihren Näpfen, die ausnahmslos alle leer waren. Julian roch aus dem angrenzenden Badezimmer sogar das Katzenklo, was absolut untypisch war.
Taro war also schon länger weg? Normalerweise achtete er nämlich penibel drauf, dass es seiner süßen Minka an nichts fehlte.
Schnell holte Julian das Katzenfutter aus dem Küchenschrank und gab der Katzendame etwas zu fressen. Zusätzlich füllte er den Wassernapf mit kühlem Nass auf und ließ Minka in Ruhe fressen, da sie sich sofort draufstürzte, als hätte sie seit Monaten nichts mehr bekommen. Kurz machte er auch ihr Katzenklo im Badezimmer sauber und sah sich weiter um.
Badezimmer? War kein Taro gewesen.
Wohnzimmer? Auch kein Taro.
Schlafzimmer? Erst Recht kein Taro.
Arbeitszimmer? Auch niemand.
Er hatte nicht Mal einen Zettel gefunden, der ihm erklärte, was bei Dreiteufelsnamen hier los war. Kein Zeichen, wo sein 23-jähriger, grünhaariger Freund blieb.
Wo war er nur?
Verwirrt sah er an sich herunter. Minka war fertig mit fressen und schlich schnurrend um seine Beine herum, so dass er sie hochnahm und liebevoll kraulte. Zärtlich vergrub er sein Gesicht in ihrem weichen Fell und spürte das leichte vibrieren, das ihr Schnurren auslöste. Sie war die liebenswürdigste Katze, die Julian je kennengelernt hatte. Sie hatte ihn noch nie gekratzt und ihn auch noch nie angefaucht. Sehr oft war sie verschmust und verkuschelt und wenn Taro gerade keine Zeit hatte, dann kam sie eben zu Julian, um sich ihre Zärtlichkeiten abzuholen. Er gab sie ihr auf jeden Fall gerne, aber er kannte sie ja auch schon sehr lang. Nicht so lang wie Taro, aber doch gut genug, dass sie ihn schnell akzeptiert hatte. Sehr schnell, wenn er sich richtig erinnerte.
„Wo hast du dein Herrchen versteckt, hm?“, fragte er leise in ihr weiches Fell und bekam ein leises Maunzen zur Antwort. Belustigt musste er deswegen Schmunzeln und kraulte sie belohnend zwischen den Öhrchen.
„Du weißt es scheinbar auch nicht. Vielleicht sollten wir ihm gemeinsam die Ohren langziehen. Was denkst du?“, wollte er sanft weiter wissen, aber diesmal schnurrte Minka nur weiter, sodass er erneut zum Reden ansetzen wollte.
In genau diesem Moment klingelte allerdings sein Handy. Taro, war sein erster Gedanke. Julian nestelte umständlich sein Mobiltelefon hervor. Mit klopfenden Herzen sah er auf das Display. Es war eine unbekannte Nummer.
Kurz runzelte er die Stirn, nahm dann aber ab.
„Hallo? Julian Schiller?“, meldete er sich und lauschte auf die geschäftig wirkende, hochnäsige Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Hallo Herr Schiller. Hier ist das städtische Krankenhaus. Wir konnten Mitglied der Familie von Herrn Taro Bienesch erreichen und Sie sind als Notfallkontakt in seinem Handy eingespeichert. Herr Bienesch wurde vor drei Tagen von einem Auto angefahren. Er lebt, liegt aber im Wachkoma.
Könnten Sie seinen Eltern Bescheid geben?“, redete die Frau einfach drauf los. Julian dagegen ließ Minka einfach fallen, die protestierend und vorwurfsvoll zu ihm hinauf miaute.
Julian war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen bei dem, was er da hörte. Sollte das vielleicht ein Scherz sein? Wenn, dann war es kein besonders Origineller. Lachen konnte er darüber gleich drei Mal nicht.
„Wie ist das passiert?“, fragte er krächzend ins Handy und räusperte sich gleich darauf ein Mal.
„Der Polizei zufolge hatte er Sie als letztes anrufen wollen und nicht auf den Verkehr geachtet. Das war gegen 14 Uhr in der Nähe des Rathausplatzes gewesen“, erklärte sie ihm ungeduldig. Sie musste wohl wieder arbeiten. Nichts, was Julian gerade irgendwie interessierte. Das was mit Taro geschehen sein sollte, war viel schlimmer. Extrem schlimm um genau zu sein.
„Ich... also... er hat keine Eltern und Verwandten mehr. Ich werde mit Sachen vorbei kommen.“ Damit schien die Frau auch zufrieden zu sein und legte nach einer knappen und unfreundlichen Verabschiedung einfach auf.
Julian stand dagegen immer noch starr da, hatte das Handy noch am Ohr und lauschte dem Tuten. Wie konnte das sein? Langsam legte er auf und starrte auf das Display, das ihn und Taro bei einem innigen Kuss zeigte. In der Nähe des Rathausplatzes, schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. Er wollte ihn anrufen und hatte einen Unfall gehabt. Starr sah er zu Minka herunter, die ihn aus großen, wissenden Augen ansah.
Taro lag im Wachkoma, weil er ihn hatte anrufen wollen.
Tränen stiegen ihm in die Augen, perlten heiß und salzig über seine Wangen hinunter. Er hatte ihn an den besagten Tag wirklich anrufen wollen, nur weil er es ihm vorgehalten hatte? Er war daran Schuld, dass Taro nun im Krankenhaus lag. Schluchzend sank er auf die Knie. Sofort schnurrte Minka ihm ins Gesicht, kitzelte ihn mit ihren Schnurrhaaren, aber Julian konnte einfach nicht darauf reagieren.
Er war daran Schuld, dass es Taro jetzt schlecht ging.
Kapitel zwei:
Das städtische Krankenhaus war das Beste in der näheren Umgebung. Ein riesiges Geländer führte um den großen Komplex herum. Die ganze Fassade war irgendwann vor vielen Jahren einmal in einem ehemals sterilem Weiß gestrichen worden, aber das Wetter hatte sich in all der Zeit daran zu schaffen gemacht, sodass sich das Gebäude nun mehr in einem schmutzigen Grau präsentierte. Zahllose Fenster durchlöcherten jede Außenwand, während zu seiner Rechten ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene die Auffahrt hinauffuhr. In dem angrenzenden Park gingen einige Patienten mit ihren Angehörigen spazieren. Manche wurden in Rollstühlen umher kutschiert. Einige von Schwestern und andere von Freunden oder Verwandten.
Julian stand an der Straße, direkt vor der Treppe, die zum Eingang des Krankenhauses führte. In seiner Hand hielt er eine große Reisetasche, in der Kleidungsstücke seines Freundes waren. Er war völlig verkrampft, während er auf das Gebäude vor sich blickte. Ein gewaltiges Monster, das jeden verschlang, der auch nur auf die Idee kam, sich seinem Schlund zu nähern.
Hart schluckte Julian und verscheuchte den Gedanken, dass von diesem Ort eine düstere Stimmung ausging und setzte sich langsam in Bewegung. Er nahm Stufe um Stufe und kam den sich selbst öffnenden Türen immer näher. Immer mal wieder glitten sie auseinander, um jemanden rein oder raus zu lassen. Als er dann endlich selber davor stand, teilte sie sich erneut und Julian trat ein. Es war, als würde er in eine ganz andere Welt eindringen und trotzdem wusste er, wo er lang musste.
Er besuchte diese Einrichtung nicht zum ersten Mal, auch wenn er damals selber in einem der Zimmer lag, weil er mit einer Blinddarmentzündung kämpfen musste. Heute begab er sich nicht als Patient in das Gebäude.
Gleich als ihn heute Morgen das Krankenhaus angerufen hatte und er sich von seinen Selbstvorwürfen und Heulattacken erholte, hatte er Minkas Sachen zusammengesucht und die Katzendame in ihrer Transportbox mit zu sich genommen. Er wohnte noch nicht allzulange in einer eigenen Wohnung, die Minka schnell erkundet hatte. Eine Tasche, die für Taro gepackt worden war, hatte er danach direkt wieder an sich genommen und seine Wohnung verlassen.
Während er sich auf den Weg zu Taros derzeitigen Aufenthaltsort machte, rief er unterwegs Linda an. Sie hatten einander zu einer Kaffeeklatschrunde verabredet, aber die musste er eindeutig absagen. Als Linda sich nach dem Grund erkundigte und Julian ihr alles erzählte, hatte er seine liebe Müh- und Not, nicht auf offener Straße erneut in Tränen auszubrechen.
Linda stand genauso unter Schock, denn auch sie war gut mit Taro befreundet. Natürlich, denn sie war es gewesen, die sie beide förmlich zu ihrem Glück gezwungen hatte. Eigentlich mehr Julian als Taro. Er hatte ihr dementsprechend versprechen müssen, nachdem er bei Taro war, direkt zu ihr zu kommen. Dass Linda direkt in das Krankenhaus fuhr, hatte er ihr zum Glück ausreden können. Es war auch so schwer genug für Julian. Er stellte sich schon das Schlimmste vor.
Langsam setzte er einen Fuß vor den Anderen und ging weiter zur Information.
„Hallo. Wo finde ich Taro Bienesch? Er wurde vor drei Tagen wegen eines Autounfalls eingeliefert“, erkundigte sich Julian, wobei seine Stimme angeschlagen wirkte. Er versuchte es zu verbergen, aber die Empfangsdame hatte ihn ganz offensichtlich durchschaut und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Er ist im sechsten Stockwerk, Zimmer 612. Dort sind die Fahrstühle“, damit zeigte sie in die besagte Richtung, wo sich Julian auch direkt hinbewegte.
Die Fahrt nach oben dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber irgendwann trat er auf einen Gang hinaus. Auch hier liefen überall Leute hin und her.
Manche folgten einer Laufstange, andere waren an einen Tropf angeschlossen und mittendrin eilten emsige Schwestern von Zimmer zu Zimmer.
Langsam ging er an einem Glaskasten, in dem eine Schwester drin saß, vorbei. Türen tauchten rechts und links neben ihm auf, aber auf keinem Schild stand der Name seines Freundes. Wo war er nur?
War es vielleicht doch nur ein geschmackloser Scherz? Julian würde alles dafür geben, aber an der letzten Tür erblickte er endlich den gesuchten Namen.
Taro Bienesch.
Julian verharrte direkt vor dem Schild und wünschte es aus Trotz und Verzweiflung hinfort. Was hatte man ihm am Telefon gesagt? Wachkoma? Das bedeutete doch nichts anderes, als dass sich Taro nicht rühren konnte. Dass er ihn nicht erkennen würde und dass er schon so gut wie tot war.
Welcher Anblick erwartete ihn hinter dieser Tür? Was drin sehen?
Nervös biss er sich auf die Unterlippe und schloss für wenige Sekunden die Augen, betrat dann aber nach kurzem Klopfen den Raum.
Es war ein Doppelzimmer und beide Betten waren belegt.
Im Zweiten ruhte ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren. Dieser hatte sich ganz offensichtlich ein Bein gebrochen.
„Hallo“, grüßte er zaghaft und fügte ein hoffentlich freundlich wirkendes Nicken hinzu, ehe er sich Taros Bett zuwandte. Erneut schluckte er hart und kam näher heran.
Es war genauso schlimm wie er es sich vorgestellt hatte. Blaue Flecken zierten Taros Gesicht. Auch Schürfwunden konnte man in Massen finden. Nicht zu vergessen die mit einer Kompresse abgedeckte Stelle an der Stirn, worunter Julian eine Platzwunde vermutete. Die Augen seines Freundes waren offen und blickten teilnahmslos an die Decke über sich. Julians Herz verkrampfte sich bei diesem Anblick. Seine Hände schlossen sich zeitgleich fester um den Tragegriff der Tasche.
Es kam keine Regung von Taro. Julian schluckte bei diesem Anblick und zog sich einen Stuhl heran.
„Taro“, wisperte er leise und nahm zögerlich dessen eiskalte Hand in seine. Die Tasche hatte er neben dem Bett fallen lassen, aber das war ja auch egal. Seine ganze Aufmerksamkeit galt seinem regungslosen Freund.
Vorsichtig lehnte er seine Stirn an dessen Hand, ignorierte den Mann im anderen Bett, der ihn neugierig musterte, vollkommen. Sollte der doch starren.
Julian schielte zur Seite und nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass Taro ein gebrochenes Bein hatte. Den anderen Arm auf der anderen Seite zierte ebenfalls ein Gipsverband.
„Oh Taro“, nuschelte Julian und spürte schon wieder die Tränen hoch kommen. Sie wollten sich hinausschmuggeln, aber er unterdrückte sie erfolgreich. Er musste jetzt stark sein. Er durfte sich nicht gehen lassen. Das würde Taro nicht wollen. Er hatte doch immer gesagt, dass er sein Lächeln und Lachen so sehr an ihm liebte. Hatte ihm das nicht einfach reichen können?
Wieso hatte er Taro nur so drängen, wieso ihm dieses Ultimatum stellen müssen? Dieser war sonst nie so unaufmerksam, wenn er über eine Straße ging.
„Es tut mir so schrecklich Leid, Taro“, hauchte Julian, löste seine Hand von Taros und legte sie sanft unter die Decke zurück. Hoffentlich wurde sie dort etwas wärmer. Erst, nachdem er noch ein Mal sicherging, dass Taro gut zugedeckt war, erhob er sich und packte die Sachen aus der Tasche heraus. Nachdenklich sah er auf die beiden Schränke und griff nach dem Vorderen.
„Der Schrank ganz hinten an der Wand“, half ihm der Fremde im zweiten Bett.
„Danke.“ Julian nickte ihm zu, sah ihn aber nicht an. Er räumte die Sachen wortlos in den ihm zugewiesenen Schrank hinein. Viel Platz war dort nicht, aber Julian bekam alles darin unter. Die leere Tasche stellte er in das unterste Fach.
Leise schloss er die Tür und ohne noch Mal nach seinem Freund zu sehen, verließ er das Krankenzimmer. Er konnte ihn in diesem Zustand gerade einfach nicht ertragen. Er wusste, er würde sich dann nicht mehr gegen die Tränen wehren und vielleicht sogar zusammenbrechen. Das durfte nicht geschehen.
Seine Schritte führten ihn langsam zurück zum Glaskasten, hinter welchem er die Schwestern oder wenigstens eine von ihnen vermutete.
„Hallo?“, rief er, klopfte kurz gegen die Scheibe. Es dauerte einen Moment, bis endlich eine zu ihm herauskam.
„Kann ich helfen?“, fragte diese freundlich und steckte einen Stift in ihre Brusttasche.
„Ja. Mein Lebenspartner Taro Bienesch wurde hier vor drei Tagen eingeliefert. Ich wollte fragen wie es ihm jetzt genau geht. Ich habe ihm gerade ein paar Sachen vorbei gebracht“, wollte Julian bemüht ruhig wissen und spürte wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Wollte er darauf wirklich eine Antwort haben? Es war gewiss nichts leichtes, aber er musste seinem Freund helfen. Er brauchte ihn jetzt mehr denn je.
„Also, ihr Lebenspartner hat einen gebrochenen Arm und ein gebrochenes Bein. Das ist nicht so schlimm und heilt schnell wieder, aber leider liegt er im Wachkoma. Ihr Partner ist zwar wach und bekommt viele Dinge die um ihn herum geschehen mit, aber er kann sich aber weder äußern noch irgendeine Regung zeigen“, erklärte sie Julian, der ihr aufmerksam zuhörte.
„Wie kann man ihn wieder wecken? Was gibt es für Therapien?“, fragte Julian und ballte unbewusst die Hände. Es musste doch eine Möglichkeit geben. Taro durfte nicht so bleiben.
„Herr Bienesch benötigt eine frühzeitige, therapeutische Reha-Maßnahme und viel Zuwendung von seinen Bezugspersonen, die ihn dazu motiviert, wieder aufzuwachen“, fuhr sie fort.
„Sie meinen also er kann wieder aufwachen?“, fragte Julian hoffnungsvoll. So hoffnungsvoll, dass er nicht mal realisierte, dass es sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. Die Schwester bemerkte es dagegen und lächelte ihn erneut freundlich an, ehe sie zustimmend nickte.
„Nicht immer, aber ja, es kann passieren. Er braucht dazu aber die liebevolle Zuwendung seiner Bezugspersonen. Eltern, sehr gute Freunde, seiner Partnerin“, wiederholte sie.
„Ich bin sein fester Freund, sein Lebenspartner“, gab Julian ohne Umschweife zurück, da sie ihm vorhin wohl nicht richtig zugehört hatte. Die Schwester sah betroffen drein und sah ihn entschuldigend an. Sie schien nicht zu wissen, was sie dazu sagen sollte, aber das war Julian egal.
„Kann ich ihm noch irgendetwas vorbei bringen? Braucht er hier noch etwas?“
„Vielleicht drei oder vier Schlafanzüge. Die müssen seine Verwandten dann zuhause immer waschen. Dann nur das übliche“, erklärte sie und Julian dankte ihr mit knappen Worten.
Dann aber wandte er sich endlich ab und verließ eilig das Krankenhaus.
Er konnte es da drin einfach nicht mehr aushalten und schnappte eifrig nach Luft, als sich die Türen hinter ihm wieder schlossen. Das Gefühl wurde einfach nicht besser. Nein. Es war, als erdrückten seine beklemmenden Gefühle ihn hier noch mehr. Er trug die Schuld daran, dass Taro jetzt da drin lag. Das konnte er einfach nicht von der Hand weisen.
So schnell er konnte, machte er sich auf den Weg zu Linda, klingelte dort Sturm und wurde sofort hereingelassen. Fest schloss sie ihn in die Arme und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer zum Sofa.
„Wie geht es ihm?“, fragte sie liebevoll, als sie neben ihm saß und da brach es aus Julian heraus. Er konnte das Schluchzen nicht mehr zurückhalten und weinte hemmungslos. Dazwischen versuchte er ihr alles zu erzählen, auch wie er Taro gesehen hatte. Fest drückte er sich an den schlanken Frauenkörper, der es ohne zu Murren gewähren ließ.
„Oh Julian. Du bist nicht daran Schuld. Rede dir das bloß nicht ein“, wisperte sie ihm ins Ohr und drückte ihren besten Freund an sich. Dabei fuhr sie ihm tröstend durch das kurze schwarze Haar und hinab über den Rücken. Julian weinte ohne zu antworten einfach weiter. Eigentlich sollten Männer ja keine Tränen vergießen, aber er hatte sich noch nie an die geschlechtsgebundenen Grundsätze gehalten. Er wollte gerade einfach nur seinen Freund wieder hier neben sich wissen. Unversehrt. Egal, ob dieser dafür wieder zu spät kam. Das war ihm gerade so Schnuppe. Wieso hatte er auch nur so einen hohen Anspruch in diesem Bereich gehabt. Es war doch irgendwie alles gut gewesen.
Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt. Zärtlich strich Linda ihm die letzten Tränen aus dem Augenwinkel und von der Wange.
„Weiß Josh schon Bescheid?“, fragte Linda liebevoll.
„Ich denke nicht. Die im Krankenhaus haben gesagt, dass sie außer mir keinen an die Strippe gekriegt haben.“
„Du musst es ihm sagen. Irgendjemand muss die Kosten für die Reha-Maßnahmen übernehmen. Du hast das Geld dafür nicht“, sprach Linda eindringlich, aber Julian schüttelte ablehnend den Kopf.
„Taro wird das nicht wollen. Du weißt doch, wie er zu seiner Familie steht. Er will ihnen nichts schulden“, wisperte Julian und lehnte sich an die Sofapolster zurück.
„Das ist gerade völlig egal. Wenn er nicht wieder aufwacht, wird es noch viel schlimmer. Julian? Du musst Josh Bescheid geben“, erklärte Linda ernst und auch bittend.
Julian wusste ja, dass sie Recht hatte und seufzte. Er war froh, dass er noch zwei Wochen Ferien hatte. So konnte er oft bei Taro sein. Aber zuerst musste er zu Josh.
Schon am nächsten Tag hatte er sich ein Zugticket besorgt und saß in einem ICE. Trübsinnig sah er aus dem Fenster und ignorierte die anderen Fahrgäste.
Er wusste eigentlich nur wo Josh arbeitete, aber dieser hatte ihm verboten, ihn anzurufen. An Besuche hatte er wohl nie gedacht, da sie alle wussten, wie das Verhältnis in Taros Familie unter den einzelnen Mitgliedern war. Julian hätte auch selber nie erwartet, dass er Taros Bruder jemals besuchen würde, aber nun war es geschehen. Etwas, das nie eintreten sollte.
Er hatte die Stunden der Warterei auf den Zug damit verbracht, Josh zu erreichen. All seine Telefonate wurden abgeblockt, sodass er es sein ließ. Nach vier Stunden Zugfahrt war er endlich an seinem Zielbahnhof angelangt und schulterte seinen Rucksack. Sein Weg führte ihn zu den Bussen vor der Tür. Er hatte im Internet nachgeschaut, wie er am besten an sein Ziel kam.
Josh, dessen halbes Leben in seiner Firma stattfand, sollte wohl auch jetzt dort anzutreffen sein. Manchmal glaubte Julian sogar aus den Erzählungen seines Freundes herausgehört zu haben, dass es viel mehr als nur das halbe Leben war. Verheiratet mit der Arbeit nannte man das wohl.
Aber so oft hatte Taro nie über ihn oder seine Eltern gesprochen.
Als er nach einer Ewigkeit endlich vor dessen Firma ankam, fuhr er direkt in das oberste Stockwerk und bat bei der Sekretärin um ein Gespräch mit Josh Bienesch. Diese musterte ihn etwas abfällig, da er ganz offensichtlich nicht zum Stammklientel dieser Firma gehörte. Jeans, T-Shirt, Turnschuhe, ein ausgewaschener Rucksack und absolut kein Gel in den Haaren. Sie ließ ihn warten, da der Herr Bienesch wohl gerade ein wichtiges Gespräch hatte.
Es störte ihn eindeutig nicht, sodass er sich auf einem der Stühle niederließ. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und war mit seinen Gedanken sofort wieder bei Taros leblosem Blick und der eiskalten Hand. Erneut fragte er sich, wie er das hatte zulassen können. Wieso nur?
Julian war mit seinen Gedanken weit weg und bemerkte nicht, wie die Minuten verflogen. So schreckte er auf, als die Sekretärin ihn ansprach und meinte, dass Herr Bienesch endlich Zeit hätte. Kurz sah Julian auf seine Uhr. Es waren zwei Stunden seit seinem Eintreffen vergangen. Schweigend und ohne sich wegen der Wartezeit zu beschweren, folgte er der Frau und betrat nach einem kurzen Anklopfen das Büro.
Unsicher schloss er die Tür hinter sich wieder. Sein Blick wanderte durch den geschäftlich eingerichteten Raum und blieb bei Josh hinterm Schreibtisch hängen. Er hatte diesen Mann nur einmal zufällig auf einem von Taros Fotos gesehen. Damals hatte er auf dem Bild zwar viel jünger gewirkt, aber er erkannte ihn ganz eindeutig wieder.
Nur langsam trat er näher. Josh hatte bis jetzt nicht von seiner Arbeit aufgesehen. Dessen blondes Haar hing ihm locker über die Augen. Josh war 30 Jahre alt und der älteste Sohn der Familie Bienesch.
Dann endlich, als Julian knapp hinter dem Stuhl stehen blieb, sah Josh auf, musterte ihn kurz und deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch. „Was führt dich her?“, fragte Josh kühl als Julian endlich saß.
„Hat mein Bruder wieder was angestellt? Braucht er Geld?“, fragte Josh, bevor Julian antworten konnte, was ihn wütend werden ließ. Sie hatten einander zwar nur einmal ganz kurz getroffen, aber er ahnte, was seinen Freund so sehr an diesem Mann aufregte. Sicher hatte der Kerl auch nur eins und eins zusammengezählt, als er seinen Namen vorhin von seiner Sekretärin erfuhr.
„Nicht direkt. Taro hatte vor vier Tagen einen Autounfall und liegt nun im Wachkoma“, erzählte Julian traurig und knetete nervös seine Finger in seinem Schoß, während Josh mit einem Mal aufmerksamer wirkte.
„Ich wäre niemals hier her gekommen und würde es selber machen, aber ich habe nicht das nötige Geld für die Reha-Maßnahmen. Es wurde gesagt, es besteht eine Chance, dass er irgendwann wieder aufwacht, aber nur mit der Reha und sehr viel Zuwendung“, fuhr Julian fort und sah nicht eine Sekunde auf.
Er fühlte sich so verdammt schuldig.
Josh schwieg eine ganze Weile, lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und schien nachdenklich. Selbst seine sonst so kühle Art war zu einem gewissen Grad verschwunden. Julian wusste, dass sein Bruder Josh nicht ganz so egal war wie dem Rest der Familie. Zumindest glaubte er, dies zu spüren, denn sonst hätte man ihn doch schon längst wieder auf die Straße geworfen.
„Bitte. Kannst du ihm helfen?“, bat Julian und versuchte Josh in die Augen zu sehen. Nervös biss er sich dabei auf die Unterlippe und nagte darauf herum.
Mit seinen Fingern tippte Josh in einem unbekannten Takt auf seinem Schreibtisch herum.
„Die Kosten sollten kein Problem sein. Schick mir die Unterlagen zu oder hast du sie mit?“, antwortete Josh endlich und hastig nickte Julian.
Natürlich hatte er sich alle Unterlagen beim hinausstürmen aus dem Krankenhaus an der Information geben lassen und zog sie aus seiner Tasche hervor, um sie Josh zu reichen, der sie einmal schnell überflog.
„Nicht ganz billig, die Krankenhauskosten und die Therapien“, murmelte Josh und blätterte auch den Rest durch. Julian war ganz nervös. Würde dieser Mann trotz des gestörten Verhältnisses für die Kosten aufkommen?
„Ich behalte die Unterlagen hier. Wie gesagt. Die Kosten übernehme ich. Aber besuchen musst du ihn regelmäßig. Damit kann ich nicht dienen. Ich komme hier nicht weg“, erklärte Josh kühl. Julian seufzte dankbar auf.
„Danke Josh. Wirklich, vielen Dank“, entgegnete Julian sehr erleichtert und erhob sich von seinem Platz. Es schien ihm wie ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer und doch stand ihm noch das Schwerste bevor. Er wusste es und spürte es nur zu genau.
Er wollte heute eindeutig noch wieder zurück. Das hieß aber auch, er musste sich beeilen um den nächsten Zug zu erwischen.
„Schon gut. Ob Taro darüber auch so glücklich sein wird, bezweifle ich aber“, winkte Josh nur ab und kurz blinzelte Julian verwirrt wegen der Worte auf. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der andere noch irgendetwas sagen würde.
„Ich werde ihn dazu nötigen, wenn er wieder aufwacht. Sein Leben ist eindeutig wertvoller als irgend so ein Streit“, lächelte Julian krampfhaft, aber es sah eher wie eine Grimasse des Grauens aus.
Auch Josh erhob sich diesmal von seinem Stuhl und reichte Julian über den Tisch hinweg die Hand, welche eher zurückhaltend angenommen wurde.
„Es war gut, dass du hier warst. Eine angenehme Heimreise dir. Ich denke nicht, dass du noch bleibst, um dir die Sehenswürdigkeiten anzusehen. Auf Wiedersehen“, verabschiedete Josh sich kühl, bekam aber nur ein Nicken darauf hin.
Julian verließ kurz darauf die Firma und erwischte noch den nächsten Zug nach Hause. Die Fahrt zurück war sehr nervig, aber er überstand sie trotzdem irgendwie.
Wo war nur die Zeit hin? Sie schien gerade zu fliegen, denn sein Blick wanderte an der Krankenhausfassade hinauf. Erneut stand er hier, aber er konnte seinen Freund heute nicht mehr besuchen, da die Besuchszeiten für heute vorbei waren.
Auch am nächsten Tag stand Julian wieder vor dem riesigen Gebäudekomplex. In seiner Hand hing eine Tüte, in welcher sich drei Pyjamas befanden. Er hatte sie ihm vor wenigen Minuten noch aus dessen Wohnung geholt, auch wenn Taro solche Kleidungsstücke eigentlich nicht trug. Diese hier waren eher für Gäste gedacht, aber sie würden seinem Freund schon passen.
Julian zögerte, das Krankenhaus zu betreten. Das alles wirkte noch immer so unheimlich und bedrohlich auf ihn, aber er riss sich zusammen. Er musste stark sein.
Als Julian das Zimmer wenig später betrat, sah er, dass der Zimmernachbar auch wach war und ihn kurz musternd betrachtete.
Julian grüßte diesen kurz und trat dann zu Taro ans Bett heran. Die Tüte stellte er an das Stuhlbein.
Es hatte sich nichts an Taros Anblick verändert.
Nein, wieso sollte es das auch. So schnell würde er bestimmt nicht aus seinem Wachkoma erwachen. Die Hoffnung allerdings war da.
Es war irritierend, dass die Augen ins Leere blickten und nichts wirklich ansahen. Sie ignorierten ihn völlig, als wäre er Luft. Julian versetzte der Gedanke einen harten Stich im Herzen, aber vielleicht hatte er es nicht besser verdient. Wer wusste schon, was Taro nach seinem Abgang gedacht hatte, als er ihn vor der Bank stehen ließ.
Kurz sah er zu der Infusion, die an Taros Arm hing. Bestimmt wegen den Nährstoffen. Er schluckte und setzte sich neben seinen Freund. Erneut nahm er dessen Hand in seine und lehnte seine Stirn dagegen.
„Es tut mir so Leid, Taro“, wisperte Julian heiser, da ihm die Tränen hoch kommen wollten.
„So schrecklich Leid.“
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